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Ausgabe 66-2/1996

DIE BRENNENDE SCHNECKE

Produktion: WDR / MDR / SWF; Bundesrepublik Deutschland 1995 – Buch und Regie: Thomas Stiller – Kamera: Frank Griebe – Schnitt: Petar Markovic – Musik: Stefan Rager, Lars v. Mars – Darsteller: Max Haas (Peter), Jonas Kipp (Detlev), Tobias Nath (Axel), Michael Huml (Matthias), Wasja Stettner (Christian), Barbara Auer (Sarah), Sebastian Koch (Gerd) u. a. – Länge: 82 Min. – Farbe – Verleih (offen; Kontakte über den Regisseur; Fax: 030/396 93 57) – FSK: ab 12 – Altersempfehlung: ab 14 J.

Es gibt ihn noch: den deutschen Jugendfilm! Aber wo soll man ihn finden, da es zurzeit keine eigenen Festivals für diesen Genre- oder Zielgruppenfilm gibt? Beim Max-Ophüls-Festival in Saarbücken im Januar 1996 beispielsweise entdeckte ich mindestens zwei neue Produktionen für die 14- bis 16-Jährigen – außer "Die brennende Schnecke" noch "Game Over" – , denen ich aus vollem Herzen den Weg in die kommerziellen Kinos und in die verschlungenen Pfade der nichtkommerziellen Auswertung wünsche.

Protagonist des Films "Die brennende Schnecke" ist der 14-jährige Peter, der aus eigener Kraft seine Isolation überwinden möchte und Anschluss an die von Axel geführte Jugendgang in seiner Schulklasse sucht. Peters Vater starb vor einigen Jahren bei einem Autounfall; er lebt nun allein mit seiner Mutter Sarah, eine Geschäftsfrau, die durch ihre eigenen unbefriedigten Sehnsüchte unfähig ist, auf die Bedürfnisse ihres Sohnes angemessen zu reagieren. Sarah und Peter haben sich arrangiert und führen ein voneinander selbständiges Leben. Peters Leidenschaft gilt seinem Gameboy; außerdem kümmert er sich rührend um sein Haustier, die Ratte Ben. Der Junge, in der Altersphase des Herzflimmerns, kann von seinem Zimmer aus durch ein Schlüsselloch die Liebesnächte seiner Mutter beobachten. Ihr neuer Freund Gerd, ein Kinobetreiber, nutzt Peters Interesse an Filmen und Stars geschickt aus, um die Beziehung zu dessen Mutter zu festigen.

Um in Axels verschwörerischer Clique mit dem Slogan "Es lebe die Jugend!" aufgenommen zu werden, muss Peter einige Mutproben bestehen. Axel erweist sich als gefühlskalt und zynisch; ein Typ mit Führungsanspruch, der auf Hierarchie und Rituale achtet, andere reglementiert und diszipliniert. Um eine Wette zu gewinnen, schreckt er nicht davor zurück, eine Schnecke anzuzünden; später zwingt er Peter sogar dazu, seine Ratte Ben zu ertränken.

Peters Mutter und ihr Freund planen einen Sommerurlaub in der Karibik. Als der Junge erfährt, dass er nicht mit darf, sondern die Ferien bei seiner Großmutter verbringen muss, fühlt er sich an den Rand gedrängt und ausgestoßen. Die letzten Beziehungen zum häuslichen Familienleben zerreißen; wichtig für Peter ist jetzt nur die Akzeptanz der Gruppe. Er kompensiert seine offenen Aggressionen gegenüber Sarah und Gerd in die Bindungen zu Axels Gang. Dabei verstrickt er sich mehr und mehr in die brutalen Aktionen der Clique und lässt sich von Axel in eine brisante Konkurrenzsituation hineinmanövrieren. Um sich zu beweisen und es allen anderen 'mal zu zeigen', heuchelt er Gerd falsche Aussöhnungsabsichten vor. Er führt ihn in das Versteck der Bande, ein verlassenes Fabrikgebäude, und stellt ihm eine Falle: Gerd wird dort das Opfer eines Brandanschlages.

"Die brennende Schnecke" steht in der Erzähltradition von "Törless" und besitzt die tödliche Konsequenz von "If ..." oder "Clockwork Orange". Peter, die Hauptfigur, ist ein typischer Mittelstandsjunge der 90er-Jahre, der trotz Wohlstand und Konsumfreudigkeit isoliert bleibt und um Anerkennung ringt. Dabei geht es ihm nicht um wahre Freundschaft oder solidarisches Verhalten, sondern um die Suche nach seinen Grenzen und seiner eigenen Identität. In dem arroganten und selbstgefälligen Axel findet er den geeigneten Gegenspieler, sich zu beweisen. Die kaltblütige Ermordung eines lästigen Konkurrenten, der für Peters Mutter wichtiger geworden ist als ihre Bindung zu ihm, ist in dieser Spirale von brutalen Spielen und sich steigernden Gewaltakten zwingend und nachvollziehbar. In der coolen Folgerichtigkeit, mit der diese Entwicklung und ihr erschreckendes Ende beschrieben werden, gleicht der Film "Bennys Video".

"Die brennende Schnecke" ist ein TV-Erstlingsfilm, der sich auch auf der Leinwand sehen lassen kann. Leider werden dabei allerdings einige Ausstattungsfehler sichtbar: lieblose, nach Studiostandard beliebig gestaltete Innenräume fern jeder Milieudichte oder Authentizität. Der Regisseur Thomas Stiller ist ein am Actors-Studio in New York ausgebildeter Schauspieler. Seine sensible Regie und die sichere Führung seiner exzellenten Hauptdarsteller (die Rollen der Jugendlichen sind mit Laien besetzt) lassen diese Schwachstelle jedoch schnell vergessen. Barbara Auer, die Peters attraktive Mutter spielt, ist genau die ideale Besetzung, um die ambivalenten, voyeuristischen Gefühle eines heranwachsenden Jungen glaubhaft werden zu lassen.

Stillers Film war 1995 und 1996 auf den Festivals in Potsdam, Moskau, Montreal, Gent, Shanghai, New York, Washington, Saarbrücken, New Delhi, Belgrad, Schwerin und Karlovy Vary präsent. Bleibt zu hoffen, dass deutsche Jugendliche nicht erst zu einem Auslandsfestival reisen müssen, um einen Film zu sehen, der ihre Alltagsrealität authentisch widerspiegelt und sich aus der Sicht des jugendlichen Protagonisten eines Problems annimmt, über das zu reden ist – nach dem Kino, nach der Vorführung im Filmclub oder wo auch immer.

Horst Schäfer

 

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