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Ausgabe 69-1/1997

NARAN

SHIROI UMA

Produktion: Hone Film C. Ltd; Japan 1995 – Regie und Drehbuch: Makoto Shiina nach seinem Roman "Kusa no umi" – Kamera: Kenji Takama – Musik: Katsuhide Kimura – Darsteller: Ganboldin Baasankhuu (Naran), Adilbishiin Dashpiljee (Vater), Namjilpansaniin Sarantuy (Mutter), Dzunduin Galsandandzan (Großvater) – 106 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Hone Film Co. LTD, 1-8-14 Ginza, Chou-ku, Tokyo 104, Japan, Tel.: +81-3-3563 7834, Fax: +81-3-3561 6810 – Altersempfehlung: ab 6 J.

Zu Beginn des Sommers kehrt der achtjährige Naran mit den Geschwistern zu seinen Eltern in die mongolische Steppe zurück, um hier während der Ferien das traditionelle Leben eines Nomaden zu führen. Besonders freut er sich auf das Wiedersehen mit seinem geliebten Pferd, einem Schimmel, mit dem ihn mehr verbindet als die traditionelle Zuneigung der nomadischen Mongolen zu ihren Pferden. Es wird kein gewöhnlicher Sommer sein: Denn Naran wird erstmals am traditionellen Naadam teilnehmen, einem Pferderennen über die Distanz von 28 Kilometern. Aber nicht nur deshalb freut er sich auf die Zeit in der Steppe. Nach langer Zeit wird er auch seine Großfamilie und seinen schwerkranken Bruder Tumur wieder sehen, von dem er jedoch im Lauf des Films Abschied nehmen muss, denn Tumur fällt seiner Krankheit zum Opfer.

Naran schöpft Kraft und Mut aus der Begegnung mit einem Balladensänger, der ihm auf der Laute die uralte mongolische Legende vom weißen Pferd vorträgt: Einst waren der Schäfer Sukh und sein Schimmel, den er von klein an aufgezogen hatte, unzertrennlich. Als Sukh ein Rennen gewann, wollte der König unbedingt das Pferd haben, doch Sukh mochte es nicht hergeben. Da nahm sich der König das Ross mit Gewalt und jagte Sukh davon. Das getreue Tier aber warf den König ab und floh zu Sukh. Auf der Flucht von den Bogenschützen des Königs so schwer verletzt, schaffte es das Pferd nur knapp bis zu dem geliebten Menschen, bevor es starb. In der Nacht bat der Geist des Pferdes Sukh, aus seinem Fell und den Sehnen eine Laute zu bauen, und als Sukh auf dem Instrument spielte, linderte das seinen Schmerz. Und seither ist die Legende von Sukh und seinem Schimmel unter allen Mongolen ein Synonym für unverbrüchliche Treue. Eine Treue, wie sie auch Naran seinem Pferd erweist, als es kurze Zeit später erkrankt. Nur seine aufopferungsvolle Pflege bringt das Tier, das der Tierarzt schon aufgegeben hatte, über den Berg. Eine Treue, auf die auch der Originaltitel verweist, der nichts anderes als Schimmel bedeutet. Nun steht dem großen Rennen nichts mehr im Wege. Doch ein Missgeschick bringt Naran um den Sieg, und er wird "nur" Zehnter. Dennoch ist seine Familie stolz auf ihn, und Naran kehrt gereift aus der Steppe in die Schule zurück. Vielleicht kann er das Naadam nächstes Jahr gewinnen.

Asiatische Filme bieten immer wieder Gelegenheit, sich mit einer fremden (Film-)Kultur zu beschäftigen. So auch dieser dokumentarische Spielfilm mit stark ethnographischem Charakter. Der japanische Schriftsteller, Filmemacher und Entdecker Makoto Shiina hat sich hier an ein selten gelungenes Experiment gewagt: Die Spielhandlung ersetzt offenkundig den sonst üblichen Off-Kommentar. Doch was anderen zur bemühten Übung gerät, wirkt bei ihm über weite Strecken wie aus einem Guss. In berauschenden Totalen der grünen Steppe – anders lässt sich diese Landschaft offenbar filmisch nicht fassen, denkt man "Urga", aber auch den mongolischen Film "Uul usny ur sad" / "Kinder der Berge und Flüsse" (1990 in Frankfurt) – beschreibt seine Geschichte die Gegenwart der nomadischen Mongolen genauso lebendig wie ihre Tradition und Vergangenheit. Über all dem liegt ein Gefühl unbestimmten Verlustes, als wolle der Japaner Shiina seinen Landsleuten zeigen, was sie durch ihren rasanten technischen Fortschritt und ihre konformistische gesellschaftliche Organisation verloren haben: Die auch für sein Volk lange Zeit prägende Bindung an die Natur und ihre (auch spirituelle) Macht. So zeigt er gegen Ende eine wohlgeordnete, uniform gekleidete (offenbar japanische) Mädchengruppe, die singend über einen Hügel kommt und deren Auftritt von den mongolischen Kindern amüsiert-verwundert verfolgt wird. Deutlicher kann man den Kontrast zwischen der modernen japanischen und der traditionellen mongolischen Lebensart nicht ausdrücken.

Leider fällt der Film in der entscheidenden Sequenz des Rennens seinen mangelnden finanziellen Mitteln zum Opfer: Denn Shiina versucht, das Naadam mit einer langen Parallelfahrt vom Jeep aus einzufangen, was angesichts der holprigen Pisten zu einem derart verwackelten Bild führt, dass man meint, Kopfschmerzen zu bekommen.

Shiinas Arbeit besticht aber durch ihren ruhigen Rhythmus, der es auch Fremden wie uns gestattet, ein Gefühl für diese Kultur und Lebensweise zu entwickeln. Und es macht Mut, dass genau diese Erzählweise die Frankfurter Jury dermaßen beeindruckte, dass sie dem Film eine lobende Erwähnung aussprach, in der es u. a. heißt: "Wir finden es wichtig, dass auch solche Filme für Kinder zugänglich sind und würden uns wünschen, dass Kinder für solche Filme offen bleiben." Das gilt auch für Erwachsene.

Lutz Gräfe

 

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