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Ausgabe 74-2/1998

NUNZIO PIANESE WIRD IM MAI 14 JAHRE ALT

PIANESE NUNZIO, 14 ANNI A MAGGIO

Produktion: Gianni Minervini / AMA FILM; Italien 1996 – Regie und Buch: Antonio Capuano – Kamera: Antonio Baldoni – Schnitt: Giogiò Granchini – Musik: Umberto Guarino – Darsteller: Fabrizio Bentivoglio, Emanuele Gargiulo, Manuela Martinelli, Tonino Taluti u. a. – Länge: 115 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Adriana Chesa Enterprises, Via Barnaba Oriani 24/A, Roma, Tel. 0039-6-8086052, Fax 0039-6-8587855 – Altersempfehlung: ab 12 J.

Antonio Capuanos Politdrama spielt in der Altstadt von Neapel, in einem Viertel, in dem einfache Menschen leben. Laute Mütter, aufgedonnerte Huren, mürrische Gestalten und frühreife Straßenjungen prägen die vitale Atmosphäre. Im Herzland der Camorra, der neapolitanischen Form der Mafia, schlägt sich der 13-jährige Nunzio mit seiner schönen Stimme durch, indem er auf Hochzeiten singt. Der Junge, der aus einer kaputten Familie stammt, freundet sich mit dem neuen Priester Lorenzo an, der ihm in seiner Kirche Orgelunterricht erteilt.

Angesichts der grassierenden Kriminalität geht der mutige Geistliche in die Offensive. "In den letzten zwei Jahren sind mehr als 80 Menschen in unserem Viertel ermordet worden", sagt er einem Journalisten. Öffentlich geißelt er das organisierte Verbrechen und ruft seine Gemeinde auf, die Kriminalität nicht länger durch Schweigen und Erdulden zu unterstützen. Gerade seine leutselige Integrität macht ihn für die Camorra besonders gefährlich. Da ein Attentat in diesem Fall nur einen Märtyrer schaffen würde, beschließen die Dunkelmänner, seine Glaubwürdigkeit zu untergraben. Dazu wollen sie Nunzio nutzen und die heimliche Neigung des Priesters zu minderjährigen Jungen. Die sogenannte Ehrenwerte Gesellschaft informiert ergebene Polizisten und die Staatsanwaltschaft. Nunzio, der bei Lorenzo erstmals seit langem eine gewaltfreie aufrichtige menschliche Anteilnahme erfährt, weigert sich jedoch auch unter Druck, gegen den Priester auszusagen. Als Lorenzo bemerkt, dass Nunzio deswegen selbst in Gefahr gerät, bricht er sein Schweigen.

In seinem zweiten langen Spielfilm, der auf dem Filmfestival in Venedig 1996 den Pasinetti-Preis für den besten Schauspieler erhielt, geht Antionio Capuano formal ungewöhnliche Wege. Einerseits lässt er die Figuren wie in einer Gerichtschronik zuweilen direkt in die Kamera sprechen, andererseits unterlegt er die Szenen aus den Problemzonen seiner Heimatstadt mit einem fiebrigen Soundtrack. Diese krude Mixtur irritiert zwar zunächst, verdeutlicht jedoch gerade mit ihrer markanten Stilisierung das pulsierende Leben der gewalttätigen Metropole. Die soziale und politische Realität Neapels charakterisiert der 1945 dort geborene Regisseur, der auch das Drehbuch schrieb, mit großer Präzision, erkennbar an kleinen, aber aussagekräftigen Randbeobachtungen und Gespür für Zwischentöne. Ohne in einen plakativen Anklage-Gestus zu verfallen, führt er uns ein gesellschaftliches Klima vor Augen, in dem der Verlust familiärer Bindungen, die Resignation der Armen, die Allgegenwart der Korruption, die scheinbare Ohnmacht gegenüber der Camorra zu einer schleichenden Entwertung der Werte und zur Auflösung eines funktionierenden Gemeinwesens führen.

Mit dem jungen Emanuele Garguilo und Fabrizio Bentivoglio hat Capuano die schwierigen Hauptrollen exzellent besetzt, tragen die beiden doch das zuweilen geradezu kammerspielartige Drama über weite Strecken fast alleine. Beeindruckend ist, wie sie den schauspielerischen Balanceakt absolvieren, eine menschlich erfüllende Freundschaft darzustellen, die von einem doppelten Tabu überschattet ist: die Homosexualität des katholischen Priesters und die Minderjährigkeit des Knaben. Lediglich gegen Ende, wenn Capuano die Denunziation Nunzios bei den Staatsanwälten parallel montiert zu einer Kreuzwegprozession Lorenzos im strömenden Regen, schießt er in barockisierendem Pathos übers Ziel hinaus.

Wie Aurelio Grimaldis ebenfalls 1996 entstandener Essayfilm "Nerolio" mit drei fiktiven Episoden des berühmten homosexuellen Schriftstellers Pier Paolo Pasolini, blieb auch Capuanos Film ein regulärer Kinostart in Italien verwehrt. Stieß "Nerolio" wegen seiner schonungslosen Darstellung der menschlichen Unzulänglichkeiten des Ausnahmekünstlers in einflussreichen intellektuellen Kreisen auf Ablehnung, so eckte "Nunzio Pianese" wegen der delikaten sexuellen Thematik bei der mächtigen katholischen Kirche an. Vor dem Hintergrund der belgischen Dutroux-Affäre und der dadurch ausgelösten Debatte über Kindesmissbrauch sowie der Diskussion über Kinderpornographie im Internet verdient Capuanos packendes Drama auch hierzulande Beachtung. Dies umso mehr, als sich "Nunzio Pianese" in der Komplexität seiner Inszenierung vorschnellen Urteilen entzieht und gängigen moralischen Vorverurteilungen sensationsgieriger Massenmedien Widerstand leistet, dafür aber umso beherzter für Toleranz und Barmherzigkeit eintritt.

Reinhard Kleber

 

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