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Ausgabe 76-4/1998

"Gevatter Tod" – Beispiel einer filmischen Adaption

(Hintergrund zum Film GEVATTER TOD)

Beim Seminar "Vom Abschiednehmen und Traurigsein – Über Sterben, Tod und Trauer im Kinderfilm" im Rahmen vom 16. Kinderfilmfest München gab Beate Hanspach, Dramaturgin des Films "Gevatter Tod", Auskunft über dessen Entstehung und Konzeption. Die wesentlichen Punkte sind hier noch einmal zusammengefasst:

Die Idee zu einem Film nach dem Märchen der Brüder Grimm "Der Gevatter Tod" entstand bei den Autoren Wera und Claus Küchenmeister, dem Regisseur Wolfgang Hübner und mir in langen Gesprächen während der gemeinsamen Vorbereitungen zu dem Märchenfilm "Der Meisterdieb". Das war im März 1976. Einen ersten Entwurf legten Küchenmeisters wenige Tage später vor. Beide liebten das Märchen seit ihrer Kindheit und hatten sich erneut, interessiert am Thema Sterbehilfe und Trauerbegleitung, damit auseinander gesetzt. Sie wollten der Frage nach dem Tod eine Antwort aus philosophischer Sicht, und zwar aus materialistischer Position, geben. Nichts Mystizistisches oder Psychologisierendes bestimmte die Konzeption, sondern die realistischen Einsichten, "dass das Ende gültig ist", "Wenn's aus ist, ist es aus!", "Ein Mensch, der den Tod als natürlich sieht, kann sein Leben siegreich bestreiten". Der Film sollte ein Gefühl der Verantwortung gegenüber dem Leben wecken. Es ging also um Gedanken, mit denen sich alle Menschen beschäftigen, nach unserer Auffassung auch Kinder von etwa zehn Jahren an.

Die Kinderdramaturgie des DDR-Fernsehens zeigte seit Anfang der 70er-Jahre ausdrückliches Interesse an Märchenfilmen, mit deren Produktion das DEFA-Studio in Babelsberg beauftragt werden konnte und die sich nach der Ausstrahlung im Fernsehen für den Kinoeinsatz eigneten. Bei diesem Stoff aber gab es Bedenken, die weniger ideologisch prinzipiell, sondern meist mit persönlichem Unbehagen wegen eigener Ängste vor Krankheit und Tod begründet wurden. Solch "Schrecken erregende" Thematik sollte von Kindern ferngehalten werden. Der Satz in der Konzeption, "Grausam sind diejenigen, die als Menschen töten, nicht der natürliche Tod" wurde zwar akzeptiert, seine Darstellbarkeit mit den Mitteln des Märchens aber angezweifelt. Nachdenken über den Tod war im Film der DDR, besonders wenn er auch für Kinder geeignet sein sollte, stoffliches Neuland. Zum Glück setzten sich jene durch, die das "riskante Experiment" wagen wollten.

Den Ausschlag gab Küchenmeisters' Methode, die sich bei den Filmen "Der kleine und der große Klaus" nach Hans Christian Andersen (Regie: Celino Bleiweiß) und "Der Meisterdieb!" nach Grimm (Regie: Wolfgang Hübner) bewährt hatte. Die Maxime ihrer Adaptionen hieß, aus der Quelle des Originalmärchens schöpfen und die märchenhafte Überhöhung mit historischer Konkretheit verbinden. Wera und Claus Küchenmeister hatten als Meisterschüler bei Bertolt Brecht begonnen. Durch ihn angeregt betrachten sie Märchen als poetische Verdichtung realer Inhalte und als Material, das für eigene Ausdeutungen genutzt werden kann. Zudem legitimiert Wilhelm Grimm in seiner Vorrede zu den Kinder- und Hausmärchen (1857) sogar selber "ein freies Auffassen" der Märchen "zu eignen, ganz der Zeit angehörenden Dichtungen; denn wer hätte Lust, der Poesie Grenzen abzustecken".

Bei den Brüdern Grimm beginnt das Märchen vom Gevatter Tod in aufrührerischem Grundton. Ein armer Mann sucht für sein dreizehntes Kind einen Paten. Den lieben Gott lehnt er ab: "Du gibst dem Reichen und lässest den Armen hungern." Auch den Teufel, den Verführer der Menschen, will er nicht. Dem Tod überlässt er das Neugeborene als Patenkind: "Du bist der rechte. Du holst den Armen wie den Reichen ohne Unterschied."

Aus dieser Haltung, antifeudal und demokratisch, leiteten die Autoren die soziale und historische Zuordnung ab. Sie entschieden sich für die Zeit der deutschen Renaissance. Dem Regisseur Wolfgang Hübner kam die Ansiedlung zu Anfang des 16. Jahrhunderts sehr entgegen. Anstelle der üblichen, allgemeinen Märchenlandschaft "im Nirgendwo und überall" regte ihn der konkrete Geschichtsbezug zu einer Fülle genauer Details an, wichtig für Kostüm, Maske, Requisite, Musik und natürlich für die regionale Anbindung. Das Team entschied sich für die Renaissancebauten von Görlitz als Hauptschauplatz. Diese Wahl führte unweigerlich zum Überdenken der Handlung und ihrer Figuren. Zur freien Reichsstadt Görlitz an der Neiße, um 1530 ein bedeutendes Handelszentrum, passte kein Königshof wie vom Grimmschen Märchen vorgegeben. Nicht den König heilt der Arzt, sondern den Mächtigsten der Stadt, den reichen Bürgermeister. Und um dessen Tochter geht es; sie will der Arzt zur Frau nehmen.

In diese Welt des erwachenden Bürgertums gehörte ein aufgeklärter Arzt, an Paracelsus erinnernd, der sich nicht auf das Zauberkraut seines Gevatters verlässt, sondern Wissen über die Gesetze der Natur an den fortgeschrittensten Universitäten seiner Zeit, Perugia und Casablanca, erwirbt. Zunächst selbstloser Helfer der Kranken, lässt er sich vom Reichtum verführen und muss scheitern, weil er das Naturgesetz des Todes missachtet. Jörg, der Arzt, ist ein gebrochener Charakter mit Stärken und Schwächen, kein "siegreicher Held".

Wie aber sollte sein Gegenspieler, der Tod, im Film aussehen? Die Grimmsche Charakterisierung, "da kam der dürrbeinige Tod auf ihn zugeschritten", und das Erwähnen der "eiskalten Hand" wecken ein vages, gängiges Bild vom Knochenmann mit der Sense. Nach unserer Meinung hätte das greifbare filmische Abbild vom wandelnden Gerippe unfreiwillige Komik oder, ebenso unpassend, Gruseln und Ängste ausgelöst. Der Tod in unserem Film sollte nicht Grauen erregend sein. In einem mittelalterlichen Gedicht fanden Küchenmeisters die Beschreibung vom Tod, wie er gemächlich auf einem Ochsen reitet. Dieses Bild war der entscheidende Einfall, der den Stil des Films geprägt hat, ganz im Sinne der Konzeption. Die konsequente Inszenierung, die Besetzung der Titelrolle mit dem kraftvollen Schauspieler Dieter Franke, das sorgfältig abgestimmte Kostüm, ja sogar die Auswahl eines braunen Ochsen, auf dem der Gevatter durch das weite Land daherkommt, und seine Sprache: "Hab Zeit; wie alles auf dieser Welt seine Zeit hat", ergaben die beabsichtigte beruhigende Wirkung.

Die Auffassung vom Tod als allegorische Figur ließ es zu, der märchenhaften Struktur der Vorlage zu folgen und den Pakt beizubehalten: Steht der Tod am Kopf des Kranken, mag der Arzt ihm Heilung bringen; steht er zu Füßen, ist die Uhr abgelaufen. Jedoch der Märchenschluss bei den Grimms, wo der Tod sich am Arzt rächt und sein Lebenslicht auslöscht, widersprach unserer Lesart. Sie bestimmt das Handeln der Symbolfigur Tod nicht durch moralische Wertungen, nicht durch das menschliche Gefühl der Rache, sondern leitet es aus dem inneren Gesetz der verkörperten Naturgewalt ab: Nur eins will der Tod erreichen, der Arzt soll begreifen, dass das Ende unumkehrbar ist.

Um diese Erkenntnis sinnlich fassbar zu machen, wurde eine Figur hinzu erfunden, ein Junge, den der Arzt einst an Kindes Statt angenommen hat und den er am Schluss verantwortungslos opfert, um das Leben seiner Braut zu retten. Der Verlust des Kindes ist für den Arzt schlimmer als sterben. Er verzweifelt an seiner Schuld, läuft vor sich selber davon. Der Film schließt mit einem tröstlichen Epilog. Freundlich tritt der Tod zu dem geretteten Mädchen, der vergeblich wartenden Braut, und sagt: "Gebrauch dein Leben. Lebe! Und leb wohl."

Was sich im Nachhinein als logische Stoffentwicklung erklären lässt, war allerdings ein langwieriger kreativer Prozess. Zum Glück bestand zwischen uns, den Autoren, der Dramaturgin, dem Regisseur, ein vertrauensvolles Arbeitsverhältnis, das diesem Sujet die erforderliche Zeit zum Reifen einräumte. Der Film provoziert auch heute noch das Gespräch, wie bei seiner Aufführung in München zu erleben war.

Beate Hanspach

 

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