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Ausgabe 54-2/1993

"Ich weiß auch nicht, was das heißt, erwachsen zu werden"

Gespräch mit Jean-Claude Lauzon, Regisseur und Drehbuchautor des Films "Leolo"

(Interview zum Film LEOLO)

Bio-Filmografie
Jean-Claude Lauzon, geb. 1953 in Montréal, arbeitete als Tabak- und Maispflücker, Taxichauffeur, Tauchlehrer, Redakteur bei einem Jagd- und Angelmagazin, Platzanweiser beim "Montréal Filmfestival", Bibliothekar und Werbefilmer, seit 1979 Tätigkeit als Regisseur und Filmautor. – Filme: "Super Maire-L'Homme de 3 Milliards" (16mm Kurzfilm – Grand Prix Norman McLaren beim kanadischen Studentenfilm-Wettbewerb 1979), "Piwi" (1981), "Un Zoo la Nuit" (1987), "Leolo" (1991).

KJK: Was heißt Kindheit für Sie?
Jean-Claude Lauzon: "Alles, was vor meinem 16. Lebensjahr passiert ist, hat sich in mein Gehirn eingegraben. Die Erinnerungen aus dieser Zeit sind viel präsenter als die späteren. So war es für mich als Filmemacher auch einfach, mich an Dinge wie Farben, Atmosphäre, Dialoge und Bilder zu erinnern. Die Momente des Heranwachsens sind so intensiv, die vergisst man nicht so leicht."

Und was hat "Leolo" mit Ihrer eigenen Kindheit zu tun?
"Es ist nicht alles naturgetreu übernommen. Aber ich habe auch zwei Schwestern und einen Bruder, sie sind in psychiatrischer Behandlung, wie im Film. Allerdings habe ich nie versucht, meinen Großvater zu töten. "Leolo" ist ein Porträt, das der Realität meiner Kindheit nahe kommt.

Wie hat Ihre Familie auf den Film reagiert?
"Die haben unheimlich gelacht. Meine Mutter hat sich allerdings etwas darüber aufgeregt, dass im Film schmutzige Berge von Geschirr in der Küche herumstanden und die Ratten da herumliefen. Sie sagte, was werden die Leute von mir denken, ich habe mein Geschirr doch immer gespült."

Haben Sie Tagebuch geschrieben?
"Nein, jedenfalls nicht ein richtiges Tagebuch. Ich habe mir als Kind viel notiert, versucht, meine Gefühle, Eindrücke, eine Art Porträt meines Vaters, der Kirche und meiner Beziehungen festzuhalten?

Also eine Art Abrechnung oder Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit?
"Nach 'Un zoo la nuit' wollte ich eigentlich keinen Film mehr machen. Den größten Teil der Texte für 'Leolo' habe ich schon sehr früh geschrieben. Eine Zeit lang habe ich das verdrängt, aber dann bin ich nicht mehr davon losgekommen. Für mich war die Arbeit an 'Leolo' befreiend und aggressionslösend. Das heißt aber nicht, dass ich schlechte Erinnerungen an meine Kindheit habe. Ich war sehr glücklich."

Filmemachen als Therapie?
"Warum nicht. In dem Viertel, wo ich aufwuchs, waren die Leute arm, konnten ihren Frust und ihre Enttäuschungen nicht differenziert ausdrücken. Bei vielen führte das zu psychischen Störungen. Als Künstler hat man andere Möglichkeiten, mit psychischen Verletzungen umzugehen, hat die Chance, sich in die Musik, den Film oder die Literatur zu flüchten."

Gehört Schreiben für Sie inzwischen zum Alltag?
"Ich wähle es nicht, es kommt so über mich. Ich stamme aus einer einfachen Familie, wo der Bleistift nur dazu diente, die Einkaufsliste zusammenzukritzeln. Jetzt habe ich zwei Spielfilme gemacht. Aber ich würde mich nicht als Künstler bezeichnen. Das ist ein unsicherer Status, den man in 24 Stunden wieder verlieren kann."

Wenn Sie sich nicht als Künstler sehen, wie würden Sie sich definieren?
"Als einen Händler, der auf diesem Planeten lebt. Ich drehe zum Beispiel Werbefilme. Filmemachen kann auch eine Art von Prostitution sein. Ich habe ein Angebot abgelehnt, einen Spielfilm in Los Angeles zu machen, weil mir der Stoff nicht gefiel. Das wäre für mich Prostitution gewesen. Filmemachen kann beides sein. Kunst und Prostitution. Das ist oft eine Gratwanderung."

Wie verkraften Sie Ihren Erfolg, haben sich Ihre Beziehungen zu Freunden dadurch geändert?
"Das ist eine interessante Frage. Manchmal bin ich verzweifelt, dann brauche ich die Einsamkeit, fliehe für Wochen in die Natur. Für andere ist es manchmal schwierig, mich zu ertragen. Eine Freundin sagte, ich sei in meinen kreativen Phasen wie eine Maschine, unfähig zur Kommunikation oder einer normalen Beziehung."

Lieben Sie die Einsamkeit?
"Ich liebe sie nicht, aber ich brauche sie. Da gibt es zwei Arten: Allein in der Natur, oder wenn ich alleine herumfliege, das ist o.k. Aber die Einsamkeit, wenn ich anfange, hilflos mein Alleinsein herauszuschreien, die hasse ich, die ist hart."

Was ist für Sie das Schönste, was das Schlimmste an der Kindheit?
"Das Gefühl für die Zeit. Es war zweischneidig, schön und furchtbar zugleich. Die Sommer waren herrlich lang, wie ohne Ende. Auf der anderen Seite schien es mir wie eine Ewigkeit, wenn ich mit einem Mädchen ausgehen wollte. Da konnte die Zeit lang werden."

Sexualität spielt eine große Rolle in "Leolo".
"Das war für mich auch ein wichtiger Bereich. Da gibt es keine Tricks, da konnte ich wirklich ich selbst sein. Unsere Erziehung war unheimlich permissiv, wenn es um Sexualität ging. Ich erinnere mich, dass ein Lehrer mich mal geschlagen hat, weil ich in der Pause immer zu einem Mädchen der anderen Schule rübergestarrt hatte. Pädagogen machen oft viel kaputt. Bei so einer Erziehung entwickelt man natürlich wilde Phantasien, was wäre, wenn ... Heute können Kinder ihre Sexualität ganz anders ausleben, ihren Penis ungestraft begucken und fast spielerisch ihre ersten Erfahrungen machen."

Will Leolo überhaupt erwachsen werden?
"Leolo geht aus der Welt, weil er sich ganz der Kreativität und seinen Träumen hingeben will. Ich weiß auch nicht, was das heißt, erwachsen zu werden."

Unter anderem auch, Verantwortung zu übernehmen.
"Verantwortung für was? Ein TV-Set zu besitzen, eine Kreditkarte, in der Welt herumzufliegen? Diese Art des Denkens mag ich nicht. Verantwortung lernen, heißt für mich, Sensitivität lernen. Wenn man ein Kind hat, ist das etwas anderes. Da muss man Verantwortung übernehmen. Für mich ist Respekt wichtig."

Ist Ihr Film auch eine Hommage an diejenigen, die noch Träume haben?
"An die Träumer und an die starken Mütter, ohne die alles zusammenbrechen würde. Wir sollten mehr ans Träumen denken, an die Poesie. Jetzt sind die Geschäftemacher an der Macht, die verkaufen und kontrollieren alles. Auch die Kultur. Nur noch die materiellen Werte zählen. Als ich Kind war, war Geld nicht die Antwort auf alles. Wir hatten noch Ideale."

Mit Jean-Claude Lauzon sprach Margret Köhler in München

 

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