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Ausgabe 22-2/1985

"Dornröschen"

SLEEPING BEAUTY

(Hintergrund zum Film DORNRÖSCHEN – 1954)

Vorgeschichten

Wer den Namen Dornröschen ausspricht, weckt Erinnerungen. Ein Hauch ewiger Jugend und Schönheit weht uns an. Er klingt nach in der vertrauten Weise "Dornröschen war ein schönes Kind". Gesungen, instrumentenbegleitet und pantomimisch nachempfunden kehrt er wieder im Kreisspiel der Kinder, oder auf der Bühne in der choreographisch umgesetzten Ballettmusik von Tschaikowsky. Kein Zweifel, dass auch Lotte Reiniger ganz aus dieser märchenhaften Grundstimmung heraus ihre Silhouettenfilme gemacht hat. Dass sie aber ihr ganzes Leben hindurch zugleich höchst irdisch gestimmt war, lässt sich daran ablesen, wie die Achtzigjährige von ihrer ertrotzten Kinobegegnung mit Dornröschen erzählt. Es war in Berlin, so um 1907 herum. Ihre Großmutter musste sie immer ins Kino in der Kantstraße begleiten. Auf dem Programm stand Dornröschen, aber als sie ankamen, war der Film bereits abgesetzt. Da fing Lottchen so entsetzlich an zu heulen, dass die Kinobesitzerin ihr am anderen Morgen das Dornröschen ganz persönlich vorführen ließ. Augenzwinkernd kommentierte Lotte Reiniger dieses tiefgehende Dornröschenerlebnis: "Ich war darüber ungeheuer stolz!" Als sie dann ihre Lust am Silhouettenfilmmachen entdeckte, gehörte das Dornröschen mit zu ihren ersten Versuchen. 1922 wurde dieser heute verschollene Film gedreht. Wer das im gleichen Jahr entstandene Aschenputtel kennt, der kann sich leicht ausmalen, wie expressionistisch kühn und voller Bildeinfälle dieses Dornröschen gewesen sein muss. Unser vorliegendes Dornröschen ist über drei Jahrzehnte später entstanden. Lotte Reiniger lebte inzwischen in London und arbeitete für das Fernsehen. Es war in dem für sie "mörderischen Jahr 1954". Mörderisch deshalb, weil in diesem Jahr etwa ein Dutzend Filme auf ihrem Terminkalender standen und sie zu dem gezwungen war, was sie zutiefst hasste: Unter Zeitdruck arbeiten!

Dornröschen 54

Wer etwas über die Entstehung von Filmen erfahren will, der muss es sich angewöhnen, sich in aller Ruhe bereits auf den Vorspann einzulassen. Er erzählt in einer Abfolge von Textüberblendungen, wer noch mit von der Partie sein musste, damit Lotte Reiniger ihren zweiten Dornröschenfilm drehen konnte. Es ist einfach interessant, wenn man immer wieder auf alte Bekannte stößt. Da ist die Londoner Firma Primrose Film Productions, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, damit Lotte Reiniger die Möglichkeit hatte, weitere Silhouettenfilme zu machen; da ist Louis Hagen, der Gründer der Firma und der Hauptproduzent in der Nachkriegszeit; da ist der unermüdlich um die Technik besorgte Ehemann Carl Koch; und da ist Freddie Phillips, der für die Musik zuständige Gitarrist und Komponist. Längst haben wir seine dem Vorspann unterlegte Erkennungsmelodie im Ohr, und auf der Leinwand erscheint vor dem Hintergrund eines vieltürmigen, auf hohem Fels erbauten Schlosses bereits der englischsprachige Filmtitel: "The Selleping Beauty".

Die Geschichte nimmt ihren Lauf, und mit dem "Es war einmal ein König und eine Königin" fängt der deutschsprachige Erzähler an, die Silhouettenfilmszenen zu begleiten. Im Schloss wird ein Fest geplant, das der Geburt einer bezaubernden Prinzessin gilt. Des Königs Pagen ziehen hinaus in die Welt der Feen, um diese weisen Geschöpfe einzuladen. Mit aller Pracht wird das Fest gefeiert, bis es jäh unterbrochen wird von der Fluchszene der herbeigeeilten dreizehnten Fee, die man bei den Einladungen übergangen hatte: "Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Lebensjahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen." Entsetzen greift um sich, und auch die zwölfte der Feen kann den Todesfluch nur zum hundertjährigen Schlaf abmildern. Herolde werden ausgeschickt, und alle Spindeln werden eingesammelt. Aber das Schicksal lässt sich nicht aufhalten. Die im Garten allein gelassene Königstochter entdeckt einen alten Turm, der sich innen zur Wendeltreppe verengt und in dessen Turmkammer eine geheimnisvolle Alte sitzt und spinnt. Der Spindelstich lässt den Zauberspruch in Erfüllung gehen. Alles erstarrt in hundertjährigem Schlaf, und man verfolgt mit angehaltenem Atem, wie eine Dornenhecke die ganze Schlosswelt überwuchert. Im hundertsten Jahre kommt ein junger Königssohn gezogen, hört von einem alten Schäfer die Sage von Dornröschens Reich hinter der Dornenhecke, dringt furchtlos durch die Hecke und berührt Dornröschen mit dem weckenden Kuss. Erleichtert sieht man, wie alles wieder zum Leben erwacht und wie selbst der Koch dem Jungen vollends seine verdiente Ohrfeige gibt. Es wird geheiratet und im Schlussbild fällt die Dornenhecke Stück für Stück wieder in sich zusammen. Und wer dann immer noch nicht glaubt, dass das liebliche Silhouettenfilmmärchen vorbei ist, der muss entziffern, was in großen Buchstaben auf der Leinwand flimmert: THE END.

Dornröschen im "Erzählkino"

Wie immer gibt es viele Möglichkeiten, mit Kindern im Anschluss an den Film auf einfallsreiche Weise so produktiv zu werden, dass das Märchen- und Filmverstehen vertieft wird. Man kann gemeinsam die oben skizzierte Szenenfolge Dornröschens herausarbeiten und dann die zum Verständnis notwendigen Bilder malen lassen. Klebt man sie zu einem auf- und abrollbaren Bildstreifen zusammen, dann hat man bereits eine bewegliche Bildergeschichte und die Vorstellung kann beginnen. Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Man kann den Bildstreifen mit zwei Stäben auf- und abrollen, aber Kinder haben auch Spaß daran, ihn um Stuhlbeine herumzuführen. Ideal ist ein Pappkarton, in den man ein Fenster schneidet, zwei Drehstäbe einbaut und dann den Bildstreifen von rechts nach links laufen lässt. Wer für dieses Vorhaben aus einem alten Fernsehapparat die Bildröhre ausbaut, kann sich ein Erzählkino basteln, das einer richtigen Guckkastenbühne gleicht. Bei der Vorstellung wird wie im Dornröschenfilm zu den einzelnen Bildern erzählt, man kann aber auch Dialoge einbauen und begleitende Geräusche, Klänge und Melodien improvisieren. So schlägt das zuschauende Erleben des Dornröschenfilms um in eigenes Machen und Tun. Auf einfache Weise werden aus den Konsumenten Produzenten, die ein Stück medienpädagogischer Utopie praktizieren. Und wenn Kinder nach einer geglückten Erzählkino-Vorstellung fragen: "Wann machen wir wieder einmal einen Märchenfilm?", dann weiß man, dass sich der Aufwand gelohnt hat.

Ewald Heller

 

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