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Ausgabe 25-1/1986

TEE IM HAREM DES ARCHIMEDES

LE THÈ AU HAREM D'ARCHIMÈDE

Produktion: K.G. Productions / Ministere de la Culture / Ministere des Relations Exterieurs, Frankreich 1985 – Buch und Regie: Mehdi Charef, nach seinem Roman – Kamera: Dominique Chapuis – Musik: Karim Kacel – Darsteller: Kader Boukhanef, Remi Martin, Laure Duthileul, Saida Bekkouche, Nicole Hiss, Nathalie Jadot – Laufzeit: 110 Min. – Farbe – FSK: ab 18 – 35mm-Verleih: Concorde-Film, München

Hunderte von beleuchteten Wohnungen von La Courneuve, einer trostlosen und heruntergekommenen Schlafstadt vor Paris, signalisieren den alltäglichen Tagesanbruch von tausenden von Menschen. Josette bringt, auf dem Weg zu ihrem bedrohten Arbeitsplatz, ihren Sohn zu der algerischen Nachbarin Malik, die den Kleinen, ihre Kinder und ihren kranken Mann versorgt. Der Film verfolgt nicht weiter Josettes Tagesablauf, sondern führt damit schon geschickterweise und durch feinfühlige Bildschnitte den Zuschauer in die äußere Lebensumgebung der beiden eigentlichen Hauptdarsteller ein. Stunden später – es ist hell inzwischen – ist die Zeit für Pat gekommen, der seinen in Frankreich geborenen algerischen Freund Madjid treffen will, um gemeinsam etwas zu unternehmen. Beide sind achtzehn, ohne Arbeit und ohne Aussicht auf irgendeine entscheidende Veränderung in ihrem Leben. Mit gemeinsamen kleinen Diebereien, illegalen Geschäften und gelegentlicher Zuhälterei schlagen sich die beiden durch und träumen davon, einmal aus dem dreckigen, trostlosen und eingeengten Hochhausleben auszubrechen.

Mehdi Charef schildert episodenhaft, mit vielen schönen, melancholischen, aber auch heiteren Momenten eine fast wortlose und enge Freundschaft der beiden Außenseiter. Pat und Madjid steigen aus der Eisenbahn, die sie ins Zentrum von Paris gebracht hat, nicht wie alle anderen auf dem Bahnsteig aus: Die beiden verlassen den Zug, indem sie die Gleise überqueren und in irgendeinem U-Bahn-Schacht verschwinden. Der Regisseur hat hierfür eine kurze Bild-Totale ausgewählt. Mit dieser Szene schuf Charef eine wunderschöne Metapher für die Situation und das Lebensgefühl der beiden Jungen. Unten, in der U-Bahn-Station, verständigen sich Pat und Madjid schweigend, mit kleinen Blicken und unauffälligen Gesten, wessen Brieftasche sie sich zu eigen machen. Beide, die aus den unteren sozialen Schichten kommen, sehen im Augenblick des Zugriffs Vorurteile gegenüber Ausländern voraus: Pat bemächtigt sich der Brieftasche, Madjid wird handgreiflich beschuldigt – so kann die kleine Beute, in Sicherheit gebracht werden.

Fast beiläufig erzählt der Film vom Leben der Menschen in der grauen Betonstadt. In wenigen Bildern erfährt man von Josettes hoffnungslosem Leben. Nur dadurch, dass Madjids Mutter den Sohn schnell herbeiholt, verhindert er Josettes selbstmörderischen Sprung vom Balkon. Pat und Madjid leben in beschmierten Wohnblocks, mit Nachbarn, die ihren Hunden Namen wie J.R. geben und sich gegenüber Jugendlichen wie faschistoide Schlägertrupps aufführen. Madjid bleibt zum Schluss nicht einmal die Hoffnung auf eine gegenseitige Liebe mit Chantal, Pats Schwester. Maßlos enttäuscht entdeckt er Chantal auf dem Straßenstrich. Pat bleibt zumindest die Vorstellung von dem "Großen Coup", den man ohne Schreiben-Können und Wissen-Haben landen kann. Bestätigt fühlt er sich durch Balous Rückkehr in einem schicken Straßenkreuzer, an den Scheiben beklebt mit 500-Francs-Noten und einer heißen Blondine auf dem Rücksitz, der einst an die Wandtafel statt "Le théoreme d'Archiméde" unwissentlich "Le thé au harem d' Archiméde" schrieb.

Am Ende des Films unternehmen Pat, Madjid und ihre Freunde mit einem gestohlenen Mercedes eine Spritztour nach Deauville. Am Strand werden sie von der Polizei entdeckt. Alle, nur nicht Madjid, fliehen. Später, am Straßenrand, vor der Polizeiwache, wartet Pat auf Madjid. Nicht das archimedische Gesetz vom Auftrieb der Körper oder sonst irgendetwas ist wichtig für ihn. Wichtig sind Freundschaft und Hoffnung.

Mehdi Charef gelingt es in seinem Erstlingswerk "Tee im Harem des Archimedes", gedreht nach seiner autobiografischen gleichnamigen Buchvorlage, auf eine seltene Art und Weise Genre-Elemente des Kinos – wortkarge Freundschaft, Gestik – mit einfachen aber eindringlichen Bildern, die sich für soziale Wirklichkeit interessieren, zu einem spannenden Kinofilm miteinander zu verbinden, der den Zuschauer nicht belehrt, sondern mit den Figuren mitfühlen und am Gezeigten teilhaben lässt. Cherifs Film, der mit dem Prix Jean Vigo und in Cannes 1985 mit dem Preis des jungen französischen Kinos ausgezeichnet wurde, ist kein Zeigefinger-Sozialdrama, sondern ein echtes und ehrliches Kino fürs Herz.

Arnold Hildebrandt

 

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