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Ausgabe 28-4/1986

DIE VOGELSCHEUCHE

TSCHUTSCHELO

Produktion: Mosfilm, Moskau, UdSSR 1984 – Drehbuch: Wladimir Shelesnikow und Rolan Bykow – Regie: Rolan Bykow – Kamera: Anatolij Mukassej – Musik: Sofja Gubaidulina – Darsteller: Kristina Orbakajte, Jurij Nikulin u. a. – Laufzeit: 125 Min. – Farbe – O.m.U. – Verleih: Pegasus (35mm) – Auszeichnung: Grand Prix des 4. Festival International du Cinema Jeune Public de Laon / Frankreich 1986

Der Clown Jurij Nikulin, den in der Sowjetunion eigentlich jedermann, bestimmt aber jedes Kind kennt, spielt in Rolan Bykows Film "Die Vogelscheuche" einen Großvater: den alten, vergangenen Zeiten nachhängenden Nikolaj Nikolajewitsch, der in einem mittelrussischen Provinzstädtchen ein wunderschönes, altertümliches Holzhaus bewohnt. Er lebt zurückgezogen und kümmert sich vor allem um seine kostbare Gemäldesammlung. Seine Mitbürger, die ganz in ihren kleinstädtischen Alltagssorgen aufgehen, halten ihn für einen Sonderling. Aufregung kommt in das beschauliche Leben dieses Nikolaj Nikolajewitsch, als seine Enkeltochter Lena Bessolnzeva (auf deutsch hieße dieser Name: "Lena, die Sonnenlose") zu ihm zieht. Der Großvater vergöttert sie, und auch Lena hängt mit großer Liebe an ihm.

Lena, die übrigens ganz hervorragend gespielt wird von Kristina Orbakajte, der 13-jährigen Tochter des sowjetischen Popstars Alla Pugatschowa, ist brav, strebsam und von jener naiv-offenen Freundlichkeit, die mit allen gut auskommen will. Doch ihre neuen Mitschüler und Mitschülerinnen sehen in ihr vor allem einen Fremdkörper. Sie akzeptieren Lena nicht und machen ihr mit Hänseleien das Leben immer schwerer. Sie passt schon mit ihrer altmodischen Frisur und Kleidung nicht zu ihnen. Und da sie sich nicht zu wehren versteht, wird sie zur 'Vogelscheuche', an der man alle möglichen Aggressionen und Boshaftigkeiten auslassen kann. Dennoch gibt Lena nicht auf und wirbt sogar um die Freundschaft eines Jungen, in den sie sich verknallt hat. Doch gerade der erweist sich nun als ein charakterloser Feigling, der seine Klassenkameraden bei der Lehrerin verpetzt, dann aber nicht den Mut aufbringt, sich zu seiner Tat zu bekennen. Um ihn zu schützen und seine Liebe zu erringen, nimmt nun Lena die Schuld auf sich.

Damit beginnt ein schrecklicher Leidensweg für sie: Für die ganze Klasse ist sie nunmehr die Verräterin. Man isoliert sie und verfolgt sie mit einem immer unerträglicher werdenden Psychoterror, der schließlich in einer makaber-symbolischen "Hexenverbrennung" gipfelt, bei der eine, mit Lenas viel bespötteltem Kleid angeputzte 'Vogelscheuche' in Flammen aufgeht. Da es für viele in der Klasse klar ist, wer der eigentliche Verräter war, beteiligt sich Lenas Freund besonders aktiv an dieser scheußlichen Hexenjagd. Als er dann auch noch auf einer Geburtstagsparty mit einer anderen Freundin tanzt, bekennt sich Lena mit trotzig-provokantem Stolz zu ihrem "Anderssein" und verlässt dann mit ihrem Großvater die unerträglich gewordene Kleinstadt.

In der UdSSR sorgte dieser Film mit seinem kritisch-tabufreien Wirklichkeitssinn für manche Aufregung. In einigen Gegenden – so etwa in Jalta auf der Krim geschehen – meinte man sogar, so etwas gar nicht in die Kinos lassen zu dürfen. Und auch dem Festival von Cannes wurde dieser Film verweigert. Doch dann erschien in der 'Prawda', also im Zentralorgan der KPdSU, ein Artikel, der sich für diesen Film vehement einsetzte und ihn sogar nachdrücklich für Schuldiskussionen empfahl. Damit kommt etwas von dem unter Michail Gorbatschow gründlich veränderten Gesellschaftsklima dieses Landes zum Ausdruck: Die Partei selbst hat zu kritischer Wirklichkeitssichtung aufgerufen, um Mängel und seit langem eingefahrenes Fehlverhalten überwinden zu können.

Auf dem 5. Kongress des sowjetischen Filmverbandes hat Rolan Bykow, der Regisseur der "Vogelscheuche", inzwischen in diesem Sinne auch Kritik an der bisherigen sowjetischen Kinderfilm-Produktion und dem hauptverantwortlichen Gorki-Studio geübt. Wichtig sei künftig vor allem eine genaue Kenntnis der kindlichen Psyche und der kindlichen Rezeptionsmöglichkeiten. Die Filme müssten sich realistisch und kritisch mit der veränderten Erfahrungswelt von Kindern und Jugendlichen auseinander setzen. Mit ausdrücklicher Zustimmung referierte dies Elem Klimow, der neu gewählte Erste Sekretär des sowjetischen Filmverbandes, auf einer Pressekonferenz des diesjährigen 25. Filmfestivals von Karlovy Vary, wo auch von analogen Veränderungen in allen Bereichen des sowjetischen Filmwesens die Rede war.

Hans-Joachim Schlegel

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 58-4/1994 - Interview - "Man muss erst ein bisschen investieren, um dann viel zurückzubekommen"
KJK 33-4/1988 - Interview - "Die Kindheit verlässt uns nie"

 

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