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Ausgabe 30-2/1987

"Zuallererst möchte ich eine Geschichte erzählen"

Gespräch mit François Labonté, Regisseur des Films "Henri"

(Interview zum Film HENRI)

Der Film "Henri" erhielt beim 10. KinderFilmFest Berlin den Preis der Kinder-Jury. "Trotz seiner Ernsthaftigkeit" hatten sie sich zu der Preisvergabe entschlossen – das allerdings vergaßen sie nicht zu betonen. Aber gerade diese Ernsthaftigkeit und seine seriöse Nähe zur jugendlichen Erfahrungswelt haben mir den Film mehr als bloß sympathisch gemacht – er hat mich tief drinnen berührt. François Labonté ist es bei den Dreharbeiten zu "Henri" nicht anders gegangen, sagt er, unterstützt von Suzanne Herault (die bei unserem Gespräch dabei ist), Vertreterin von 'Les Films Vision 4', der Produktionsgesellschaft des Films, mit Sitz in Montreal.

Nicht viel mehr als 150 km entfernt von dieser Metropole des französisch sprechenden Kanadas wurde "Henri" gedreht – genauer gesagt in Ville Ste. Marie, einem Dorf an einem Fluss gelegen, dessen Tiefe dramatische Folgen zeitigt ...

Sein Hauptdarsteller habe ihn einmal gefragt, erzählt François Labonté, warum "dieser Typ" (Henri) denn nun immer laufen müsse, was er, der Regisseur, dabei im Kopf habe? "Da erzählte ich ihm, dass er aus zwei Gründen läuft: Zuallererst natürlich, um seine Schwester im Hospital besuchen zu können, aber andererseits rennt er die meiste Zeit, weil er sonst einfach explodieren würde ... er muss irgendwie klarkommen und beim Laufen lässt er Dampf ab."

Henri findet ansonsten keinerlei Raum für seine Trauer – also stampft er sie in den Boden seiner Heimatstadt. Er rennt gegen alles an, selbst gegen den Schulbus, mit diesem verrückten Chauffeur. Es ist zuviel, kaum auszuhalten.

Wenn dann noch eine gut meinende Lehrerin rät, er müsse jetzt immerhin stark sein – "dein Vater braucht dich" – dann sind wir wieder bei dieser elenden Forderung, Kinder mögen das Zerrissene in den Erwachsenen kitten. Doch hätte Henri überhaupt eine Chance gegen diese nicht verstehen wollende und vor allem isolierende Umwelt, wenn er sich nicht stark machen würde?

Suzanne Herault sieht darin Henris einzigen Ausweg: "Ja, da ist eine 'message' in dem Film: Du musst kämpfen!" Ganz so kann François Labonté das aber nicht unterschreiben: "Nun gut, die message mag sein, dass du kämpfen musst; aber das ist für mich nicht das Wichtigste an dem Film. Zuallererst möchte ich eine Geschichte erzählen. Gut, der Film hat viele messages, über die die Leute nachdenken können, aber ich gehe an Filme nicht derart intellektuell ran. Das ist viel einfacher. Wenn ich mich da beispielsweise an das Abdrehen der Szene erinnere, wo der Junge auf seinen Vater losgeht – da habe ich den Rest des takes nicht mehr gesehen, weil ich einfach weinen musste!"

Henri hat endlich genug: Seine Schwester liegt "fixiert" im Krankenbett und ist schon fast der Meinung, dass "es so besser für mich ist". Und der Vater schaut zu, seine Tochter muss leiden für die eigene Unfähigkeit zu trauern. Nach dem Krankenhausbesuch explodiert Henri im Auto seines Vaters. Er schlägt auf den starren Vater ein, bis ihn die Kräfte verlassen. Und der beginnt zu verstehen, wehrt sich nicht und kann zum ersten Mal seinen schluchzenden Jungen, wenn auch nur kurze Zeit, im Arm halten. "Und es ist eben so, dass zur gleichen Zeit, wo er zuschlägt, auch die Liebe für den Vater da ist", meint François Labonté. Auch das sei Kommunikation, betont er, "ohne Worte eben". Und er hat Recht, die Brutalität bricht etwas auf, wirkt in jeder Hinsicht befreiend, die Zuschauer im Kinosaal stöhnten förmlich auf während der Szene. "Er (Henri) muss sich jemanden greifen, zupacken, da gibt es keine Worte mehr. Ja, es ist eine raue Szene, aber genau diese Szene spielt sich von Zeit zu Zeit in jedem von uns ab." Liebe und Hass? "Ja, genau: Du liebst und hasst zur gleichen Zeit."

"Als die Lehrerin Henri die Sportausrüstung zum Geschenk macht, da will sie etwas in Bewegung setzen, von sich aus ... den Vater stoppen." Labonté sieht sie als Gegenstück zur Dorfbevölkerung: "Wenn so etwas in einem kleinen Ort passiert, wo jeder jeden kennt, wenden sich die Leute ab. Sie verstehen einfach nicht. Es ist für sie besser, wenn man nicht davon spricht. Sie lassen dich allein und sagen höchstens zum Schluss: Du, ich glaube, du brauchst einen Psychiater – Life is going on!" Es geht ohne Psychiater. In einer Schlüsselszene des Films findet der Vater Zugang zu seiner Trauer, geht auf sie zu. Labonté: "Er weiß, die Dinge müssen sich ändern. Er lernt!" Der Junge, Henri, gewinnt sein Rennen, aber erst nachdem er Vater und Schwester neben der Rennstrecke gesehen hat. 'Na mach schon, Junge, lauf', ruft ihm der Vater zu.

Ein hervorragender Darsteller, dieser Junge, der sich, am Ende trotz manchen Amoklaufs doch nicht verlaufen hat. 16 Jahre alt war Éric Brisebois zum Zeitpunkt der Dreharbeiten (1985). "Er ist unglaublich professionell", lobt Labonté seinen Hauptakteur. "Ich kenne Akteure, die sind 15 oder 20 Jahre alt, die kapieren kaum, wo die Kamera, das Licht oder sonst was ist. Éric kam in die Szene, schaute sich nur kurz um, checkte die Menschen um sich herum und wusste genau, wo er stehen musste ... er konnte das fühlen. Er war immer im rechten Moment am rechten Platz. Éric konnte regelrecht die Wärme der Scheinwerfer spüren und wusste allein schon von daher, wie er sich zu bewegen hatte."

Dreißig Tage haben die Dreharbeiten zu Labontés Film gedauert. Konnte der Regisseur die ganze Crew zusammenhalten, auch ihnen Zugang zum Thema verschaffen? Suzanne Herault spricht von einer außerordentlich guten Arbeitsatmosphäre. "Die Leute waren froh, bei dem Film mitzuarbeiten." François Labonté sagt selbst: "Ich sage immer, du hast drei Tage, um deine Crew zu überzeugen, dass du einen guten Film machst, ansonsten kannst du in einer halben Stunde die Kontrolle über die ganze Bande verlieren."

Soviel Begeisterung bei einem Jugendfilm? Dies sei nicht einmal ein Jugendfilm, auch keinesfalls ein Kinderfilm, erzählt man mir. Vielmehr gäbe es in Kanada die Kategorie des 'Familienfilms'. "Henri" sei so ein Film für Vater, Mutter, Tochter und Sohn. Und die Teenager in Kanada mögen den Film. Aber nicht nur sie: "Auch die Eltern. Die kommen wirklich aus dem Film und sagen zu dem Kinomanager: Vielen Dank für diesen guten Film, ganz ohne Gewalt, das ist ein guter Film für die ganze Familie." Dieses Lob für einen Regisseur, der nach eigener Aussage mit "Henri" seinen ersten richtigen Spielfilm abgeliefert hat. Zwar ist Labonté bereits seit 12 Jahren im Geschäft, begonnen hat er allerdings in der Produktion – Assistenz, Technik etc. Irgendwann hat er dann seinen ersten Kurzfilm gemacht. Durch die Gründung von 'Les Films Vision 4' im Jahre 1982 wurde das anders. Unter 60 Drehbüchern, die alsbald die Schreibtische der Leute von Vision 4 füllten, befand sich auch das Drehbuch von "Henri". Suzanne Herault und François Labonté haben schon recht, wenn sie ihren Film mit einem "Baby" vergleichen: "Du gibst deinem Baby Liebe, aber es wird von alleine groß."

Detlef Berentzen

Biografie François Labonté

Geboren 1948. Er begann seine Karriere 1971 als Cutter, zwei Jahre später war er Regieassistent bei zwei Kinderfilmen von André Melançon. 1975 entstand sein erster eigener Film "Babiole", den er auch produziert hat. 1979 gründete er eine eigene Produktionsfirma und produzierte die Kinderfilme "Le Château de Cartes" und "Réveillon". 1985 wechselte er vom Bereich der Produktion in die Regie.

 

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