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Ausgabe 55-3/1993

Ich bediene mich der Wirklichkeit, um mich der menschlichen Vorstellungen anzunähern"

Gespräch mit Abbas Kiarostami über seinen Film "Und das Leben geht weiter"

(Interview zum Film UND DAS LEBEN GEHT WEITER)

Bio-Filmografie
Abbas Kiarostami, geb. 1940 in Teheran, nach Abschluss des Kunststudiums zunächst als Zeichner von Kinoplakaten tätig, ab 1970 Regisseur beim "Institut für die geistige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen" in Teheran, zahlreiche preisgekrönte Kurzspielfilme, erster Spielfilm: "Mossafer" (1972)

KJK: Ihr vorangegangener Film "Nahaufnahme" und Ihr neuester Film sind Spielfilme mit einem ausgesprochen dokumentarischen Blick auf das Leben im Iran. Welche Beziehung sehen Sie, was Ihre Arbeit betrifft, zwischen Dokumentar- und Spielfilmen?
Abbas Kiarostami: "Ich bediene mich der Wirklichkeit, aber ich spüre kein Wechselspiel zwischen Dokumentarischem und Fiktivem. Meine Arbeit, mein filmisches Werkzeug, baut keinesfalls auf dem dokumentarischen Film auf. Alles ist inszeniert, ist fiktional, auch wenn die Form meiner Filme daran denken lässt. Meine Haltung als Filmemacher ist ganz anders als jene eines Dokumentarfilmautors. Ich bediene mich der Wirklichkeit, um mich der menschlichen Vorstellungen anzunähern. Das ergibt sich so, weil ich jemand bin, der die Dinge echt, heiter und direkt erlebt. Die Dinge drängen sich mir auf und ich greife dann in sie ein. Ich will dem Zuschauer weder ein Werk noch einen Lebensstil oder eine Filmkarriere vorsetzen, die sich auf eine Schule oder auf Vorbilder berufen: Alles kommt aus mir, aus meinem Leben und damit aus dem Leben. Deshalb arbeite ich nicht mit Berufsschauspielern."

Wie reagiert das iranische Kinopublikum auf Ihre Filme, die so nahe an der Wirklichkeit sind?
"Im Iran gibt es zwei Gruppen von Kinobesuchern. Die Mehrheit sucht im Kino Unterhaltung. Diese Leute gehen ins Kino, um zu lachen oder zu weinen, um dort einfache Gefühle zu finden oder damit man ihnen eine Geschichte erzählt. Diese Leute sind an der Art von Filmen, wie ich sie mache, nicht interessiert. Für sie sind solche Filme Dokumentarfilme im schlechten Sinn. Sie akzeptieren diese in der Realität fußende Inszenierung nicht, die eine andere Sichtweise des Kinos schafft."

In den Filmen "Wo ist das Haus meines Freundes?" und "Und das Leben geht weiter" haben die Menschen eine klare Vorstellung von dem, was sie suchen, aber sie finden etwas anderes. Das bedeutet doch, dass wir offen sein müssen, um dem Leben einen Sinn geben zu können?
"Sie haben absolut Recht, das ist die Botschaft des Films. Ich glaube in der Tat, dass wenn wir etwas suchen und nicht auf etwas fixiert sind und offen bleiben, finden wir bessere und höhere Dinge als wir ursprünglich gesucht haben."

Die beiden Filme bilden ein Kontrastpaar. Im ersten begegnen wir einer traditionellen Welt, der zweite zeigt uns, wie das moderne Leben in das traditionelle Landleben eingebrochen ist. Entspricht dies der effektiven Entwicklung im Iran oder ist dies Teil der Fiktion, der Botschaft?
"Die Zeiten haben sich wirklich geändert. Im Dorf, wo ich fünf Jahre zuvor den ersten Film gedreht habe, hat sich viel verändert. Ich wollte die Modernisierung, die Veränderungen zeigen, die nicht die Folge des Erdbebens, sondern der sich wandelnden Lebensbedingungen, der Zivilisation sind. Und diese Lebensbedingungen verändern sich noch viel schneller, als wir es im Film sehen."

Mit einer Fülle von Bildmetaphern beziehen Sie Stellung zu gesellschaftlichen oder politischen Fragen im Iran. Ist dies die Absicht Ihrer Filmgeschichten?
"Schafft man eine Figur, die echt sein soll, muss man ihre Umgebung auf allen Ebenen, der sozialen, politischen oder geografischen, einbeziehen. Der Figur im Film eine Wirklichkeit erschaffen, heißt, ihr das Wort geben. Selbstverständlich hat diese Figur ihre eigene Meinung zu ihrem Umfeld, zu Politik und Gesellschaft, zu allem, sonst existiert sie nicht wirklich, sonst ist sie eine Karikatur. Aber es ist falsch, anzunehmen, dass ich mich als Autor dieser Figur bediene, nur um meinen eigenen Standpunkt auszudrücken. Ich maße mir nicht an, die Welt zu erschaffen, Personen, Geschichten und Dialoge zu kreieren. Ich bin bescheiden und sage, ich entdecke sie. Die Welt existiert schon länger als ich. Ich entdecke sie, setze sie in Szene, setze sie zusammen oder nehme etwas weg. Ich richte sie für meine Zwecke ein."

Mit Abbas Kiarostami sprach Robert Richter

 

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