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Ausgabe 33-1/1988

EINE HANDVOLL PARADIES

BIR AVNC CENNET

Produktion: Mine Film, Türkei / Schweden 1985 – Drehbuch, Regie und Schnitt: Muammer Özer – Kamera: Hüseyin Özsahin – Musik: Tarik Öcal – Darsteller: Tarik Akan, Hale Soygazi – Laufzeit: 100 Min. – Farbe – Internationaler Vertrieb: Ararat Medienproduktion & Vertrieb GmbH, Bergmannstr. 99a, 1000 Berlin 61 – Altersempfehlung: ab 8 Jahren – Auszeichnungen: "Goldene Orange" für das beste Drehbuch und die beste Musik und "Bronzene Orange" für den Film beim Antalya Film Festival, Türkei 1985; Zweiter Preis beim Strassburg Film Festival, Frankreich 1986

Eine Familie aus dem Dorf kommt in die Stadt (Istanbul). Mitten in der Nacht kommen sie an, mit ihren Matratzen, Kissen und Tieren auf einem Traktor, und sie stehen vor verschlossener Tür. Der Freund aus dem Dorf, bei dem sie unterkommen wollten, ist inzwischen tot, die Wohnung vergeben. Sie landen schließlich in einem Buswrack am Rande der Straße und beginnen dort, ihr neues Leben aufzubauen: Vorhänge werden angemacht, ein Teppich ausgebreitet, ein Garten mit Gemüse und Blumen angelegt; ein Miniaturparadies entsteht zwischen Müllbergen und den "feinen" Häusern. Von Anfang an ist das Paradies bedroht, sie werden gewarnt, dies sei kein Platz zum Wohnen, sie "störten", der Bus werde entfernt. Kontrapunktisch zum Entstehen und Wachsen der Oase tauchen immer wieder Polizeibeamte oder Angestellte der Baubehörden auf, die "das Ende" prophezeien, bis zum dramatischen Höhepunkt der Konfrontation: Ein Riesenbagger nähert sich über die Felder und hebt den Bus aus den Angeln, um ihn wegzutransportieren. Die Familie zerbricht fast vor ohnmächtiger Wut. Aber im nächsten Bild baut der Vater wieder ein Haus – ein Holzpfahl wird in die Erde gerammt, und im Schlussbild, in einer Totale, sieht man ein großes Zelt, das "neue" Zuhause der Familie in ihrem "alten" Garten.

Millionen haben in den letzten Jahrzehnten ihr Glück in der Stadt gesucht. Der Film thematisiert ein sehr schweres kollektives Schicksal, und doch wird hier im Unterschied zu vielen sozialkritischen türkischen Filmen eine Atmosphäre der Lebensfreude und Hoffnung evoziert, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen, in Bildern, die sich über Müllberge hinweg zum offenen Meer hin "weiten", in der Geschichte einer Familie, die zusammenhält. Die Darstellung der Eltern und des Familienlebens gehört zu den besonderen Stärken des Films, sowohl mit Blick auf gängige Elternbilder als auch gegen den Hintergrund von Stereotypen über türkische Familien. Der Film zeigt Vater und Mutter als Eltern und als Paar, mit Streit, Spannungen, Zärtlichkeit und auch erotischer Freude – aneinander. Dem positiven Familienklima entsprechen auch die Außenkontakte: Ein Dieb wird nach dem ersten Schreck freundlich behandelt, denn er ist ein Bruder in Not; der Wachtmeister wird zum Essen eingeladen.

Polizei und Bauarbeiter werden hier nicht zu Buhmännern aufgebaut, sie sind die kleinen Handlanger eines mächtigeren Systems. In diesem System leben arm und reich getrennt, und die wenigen Begegnungen zwischen den Welten sind eher sporadisch. In einer humoristisch-grotesken Bilderfolge sieht man, wie die Straßenjungs sich ihren Papierdrachen zurückerobern – sie dringen in eine mondäne Badeanstalt ein, wo die reichen Kinder in ihren Badehosen herumhüpfen wie Figuren aus dem Modejournal. Auch der "Spiegelflirt" zwischen dem Jungen der Familie und einem reichen Mädchen aus dem angrenzenden Häuserblock wird nicht romantisiert, das Mädchen bleibt stets auf der "anderen" Seite, und am Schluss lächelt sie sogar spöttisch, als das Buswrack abtransportiert wird.

Die Handlung ist einfach: Gegen alle Hindernisse baut sich die Familie ein Paradies. Dieses ist zugleich ein physisch greifbarer Raum und ein emotionaler Raum, in dem sich Gefühle entfalten können. Die Spannung liegt in der Bedrohung dieses Raumes – wenn zum Beispiel der Freund des Sohnes ein Fahrrad stiehlt und beide von der Polizei verfolgt werden, oder wenn die Räumungsbefehle in immer kürzeren Abständen erteilt werden. Trotz dieser Spannungskurve ist der Film eher beschaulich und ruhig in der Kameraführung und im Aufbau der Handlung. Die Hauptpersonen sind nicht Kinder, sondern die Familie, und im Mittelpunkt des Familienlebens ist die Frau die tragende Figur im Kampf um ein besseres Leben.

Dies ist ein "Familienfilm", der für Kinder ab etwa 8 Jahren empfehlenswert ist – sowohl als unaufdringlicher Beitrag zur interkulturellen Verständigung, als auch zur Veranschaulichung eines schweren, aber glücklichen Familienlebens ohne materiellen Reichtum. Fraglich bleibt allerdings, ob Kinder sich mit dem Familienschicksal identifizieren können. Für Erwachsene und Kinder gleichermaßen hat die positive hoffnungsvolle Grundstimmung des Films auch ihren Preis: Der Film löst keine tiefe Betroffenheit aus.

Michaela Ulich

 

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