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Ausgabe 55-3/1993

"Sich fügen, dagegen muss ich einfach rebellieren!"

Gespräch mit Christina Schindler

(Interview zum Film DIE RINNSTEINPIRATEN)

Beim diesjährigen Kinderfilmfest der Internationalen Filmfestspiele Berlin lief im Kurzfilmprogramm der zehnminütige Film "Rinnsteinpiraten", eine Kombination aus Real- und Trickfilm, in dem die Regisseurin Christina Schindler die abenteuerliche Fahrt dreier Ratten auf einem Papierschiffchen durch die Berliner Rinnsteine zeigt und damit gleichzeitig – hintersinnig und doch unterhaltsam – auf Umweltverschmutzung und die Folgen unserer Wegwerfgesellschaft aufmerksam macht. Der Film, der inzwischen auch schon vom ZDF ausgestrahlt wurde, war ein enormer Erfolg beim Publikum. Dies drückt sich auch in der Vielzahl von Preisen und Auszeichnungen von Kinder- und Erwachsenenjurys (Berlin, Gera, Oberhausen) aus.

Bio-Filmografie
Christina Schindler, geb. 1962, Studium an der Hochschule für Bildende Künste Kassel mit Schwerpunkt Animationsfilm, 1987 Förderpreis der Otto-Sprenger-Stiftung Hamburg, seit 1988 Trickfilmproduktion in Berlin, seit 1992 Lehrauftrag an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg, Workshops mit Kindern im In- und Ausland. – Filme: "Circus" (1984), "Flaschenpost" (1986), "Aus-Flug" (1988), "Rabengeschichten" (1988), "Frankfurter Festivaltrailer" (1989), "Nachts sind alle Katzen bunt" (1990), "Kinospots" (1992), "Rinnsteinpiraten" (1993), "Essener Kinderfilmfestivaltrailer" (1993)

Ihre Ausbildung haben Sie an der Hochschule für Bildende Künste in Kassel gemacht – gleich mit dem Blick auf den Animationsfilm?
"Ich studierte dort von 1981 bis 1986. Eigentlich wollte ich Illustratorin werden. In diesem Bereich tummelten sich aber an der Hochschule so viele Studenten, dass es schwierig war, sich einen Platz zu erarbeiten, also entschied ich mich für den Schwerpunkt Animationsfilm. Das war damals bei Prof. Lenica, dem polnischen Plakatkünstler, der sich in den sechziger Jahren einen Namen mit existenzialistischen Filmen gemacht hat. Als ich im Trickfilm die allerersten Proben gemacht und gemerkt habe, wie eine bewegte Grafik wirkt, hat mich das so überzeugt und begeistert, dass ich bei diesem Genre geblieben bin und immer mehr Spaß daran entwickelte. Bei dieser Entscheidung dachte ich nie über eine Berufsperspektive nach, sondern bin mit viel Sympathie und Liebe zu dieser Art von Filmemachen, mit meinem ganzen Enthusiasmus und meiner Kreativität, aber auch mit einer gehörigen Portion Naivität, an die Sache herangegangen. Meine Abschlussarbeit war der Zeichentrickfilm 'Aus-Flug', dem folgte der erste Auftrag für das ZDF. Die Redaktion von 'Siebenstein' war sehr angetan von meinem Abschlussfilm und wollte etwas in dieser Richtung haben."

Das scheint ja recht problemlos gelaufen zu sein?
"Nein, dazwischen lag ein hartes Jahr Arbeitslosigkeit, ehe es mit dem Vertrag endgültig spruchreif wurde. Es ging viel Zeit ins Land, aber ich habe immer fest daran geglaubt, dass diese Zusammenarbeit zustande kommt. Mein Glück war es, dass die Redaktion von 'Siebenstein', für die ich arbeite, auch erst angefangen hatte, also ein ganz junges Team war, und die verantwortliche Redakteurin Irene Wellershoff junge Leute suchte, die die Arbeit in dieser Redaktion und an dieser Reihe gemeinsam mit ihr aufbauen. Das war meine Chance. Ich hatte mich vorher bei fast allen Sendern beworben, aber beim ZDF traf eine Reihe von glücklichen Umständen aufeinander."

Auffällig ist, dass Sie bei Ihren Produktionen weitgehend mit dem gleichen Team arbeiten. Den Schnitt verantwortet regelmäßig Tilmann Kohlhaase, die Musik stammt bei den meisten Filmen von Hamid Baroudi und die Texte bzw. Limericks von Gunter Reus.
"Diese Kontinuität ist beabsichtigt. Sie bedeutet auch Verlässlichkeit, da bedarf es bei der Arbeit nicht mehr vieler Worte, man kennt sich und weiß, in welche Richtung es gehen soll. Die Herstellung eines Animationsfilms ist streckenweise eine monotone Angelegenheit, weil alle Figuren fast hundertprozentig reproduziert und nur in winzigen Details von Zeichnung zu Zeichnung verändert werden. Da wird sehr viel Geduld abverlangt und ich bin froh, mich in dieser Phase der Arbeit auf ein festes Team stützen zu können. Mit Tilmann Kohlhaase arbeite ich schon seit dem Studium zusammen. Er übernimmt einen Part in meinen Filmen und ich unterstütze ihn bei seinen Projekten, z. B. bei dem Film 'Zeitraum', den wir über die Arbeit am 'Aus-Flug' gemacht haben, und bei seinem Film 'Atalante'. Gunter Reus ist Hochschullehrer für Journalistik in Hannover und ein alter Freund. Diese Freundschaft und Kooperation hat sich bewährt und ist jedes Mal inspirierend und produktiv. Hamid Baroudi kenne ich aus der Studienzeit. Er war damals Musiker bei der Ethnogruppe 'Dissidenten'. Er ist Algerier und ich mag seine poetische Musik. Bei 'Rinnsteinpiraten' stammt die Musik diesmal von Reinald Hahn."

Wie kommen Sie zu Ihren Stoffen?
"Eine schwierige Frage, die ich immer wieder beantworten soll. Dabei kann ich das gar nicht genau sagen. Ich lese ziemlich viel Kurzgeschichten und Romane und beschäftige mich mit dem Gelesenen. Dann schöpfe ich auch viel aus meiner Kindheit, versuche, mich zurückzuerinnern an das, was mich als Kind alles interessiert hat. Und ich gehe selbstverständlich mit offenen Augen durch die Welt und beobachte. Aus dieser Mischung von unterschiedlichen Einflüssen entstehen meine Geschichten. Sie werden nicht auf Knopfdruck geboren, sondern es ist ein ganz langer Prozess. Zum Beispiel gab es zu den 'Rinnsteinpiraten' zunächst eine ganz vage Idee von einem Papierschiff, das irgendwo herumschwimmt. Erst allmählich hat sich das konkretisiert, wo es schwimmen und wer auf dem Schiff sein sollte. Nach und nach hat es sich wie ein Puzzle zusammengesetzt."

Aber es sind Geschichten, die von Ihnen stammen. Fremde Stoffe, etwa ein Bilderbuch, wollten Sie nie filmisch umsetzen?
"Ja, alle Geschichten stammen von mir. Das Verfilmen eines Bilderbuches wäre überhaupt nicht reizvoll für mich. Die filmische Umsetzung einer Vorlage, bei der bereits Grafik und Geschichte existieren, wäre in keiner Weise eine Herausforderung, dabei ist die eigene Kreativität kaum gefragt. Aber gerade dieser Teil ist der eigentlich spannende beim Arbeitsprozess, wenn ich eine Geschichte konzipiere, die Gestaltung dafür überlege, dann die Animation erarbeite und die Figuren Leben bekommen."

Neben dieser personellen Kontinuität lassen sich – schaut man Ihre Filme in Folge an – auch im Gestalterischen immer wiederkehrende Aspekte finden. Ich denke dabei an die Figuren ...
"Ja, in Gera wurde ich auch schon gefragt, ob das jetzt die Rabenratten sind bei den 'Rinnsteinpiraten'. Es gibt gewisse Ähnlichkeiten. Eine Parallele ließe sich auch zu den Tieren in 'Nachts sind alle Katzen bunt' herstellen, auch die haben etwas von einem Raben. Ich habe mich da nicht bewusst festgelegt und für mich, die ich stärker in den Figuren lebe, weisen sie auch große Unterschiede auf. Vielleicht liegt das am Gestaltungsprozess. Die ersten Layouts der Ratten waren wesentlich zotteliger und sollten ursprünglich auch gestreift sein. Aber während der Arbeit hat sich dann ihr Äußeres geändert. Wir haben uns für eine relativ aufwändige Technik entschieden, und zwar Folienfarben, die nass vermalt werden. Dadurch sind diese Viecher alle ein bisschen mehrfarbig und es gibt diesen changierenden Effekt."

Immer wieder finden sich in Ihren Filmen gewisse Verfremdungseffekte, Widersprüche zwischen Text und Bild.
"Das macht mir Spaß und soll die Zuschauer natürlich auch provozieren. Beim 'Aus-Flug' z. B. soll damit einfach die Geschichte entlarvt werden: Das stimmt doch gar nicht, was die Lehrerin Frau Krähenfuß da vorliest. Bei den 'Rinnsteinpiraten': Die Welt von unten anzuschauen, eröffnet neue Dimensionen und lässt vieles anders, stark vergrößert erscheinen. Ich möchte keine pädagogischen Filme machen, die mit erhobenem Zeigefinger daherkommen. Mir liegt daran, dass die Zuschauer – vor allem die Kinder – sich nicht fügen in die Dinge, wie sie nun mal sind, und Normen als solche akzeptieren und kommentarlos schlucken. Dagegen muss ich einfach rebellieren. Ich möchte, dass sie hinterfragen und sich eine eigene Meinung zur Welt bilden."

Wie sind denn Ihre Erfahrungen mit Reaktionen von Kindern auf Ihre Filme?
"Sehr positiv. Nehmen wir zum Beispiel den 'Aus-Flug'. Im Film erzählt der Ton genau das Gegenteil zum Bild, dadurch erleben Kinder, dass nicht immer alles stimmt, was erzählt wird. Kinder haben meine Intention sofort verstanden, weil sie diese Situation, ständig von Erwachsenen ermahnt und zurechtgewiesen zu werden, gut kennen, diese Verhinderungsstrategien der Großen, die Welt zu entdecken und neugierig zu sein. Kinder sind da auch noch viel offener und frischer und können einen solchen Film in seiner ganzen Bandbreite wahrnehmen, während sich erwachsene Zuschauer bis zum Schluss gewundert haben und meinten, ich solle den Film doch noch einmal überarbeiten. Ihre Sehgewohnheiten sind schon so festgefahren, da muss Bild und Ton übereinstimmen. Der Film 'Nachts sind alle Katzen bunt' ist ganz anders aufgebaut, er erzählt keine fortlaufende Geschichte. Es sind kürzere Spots, die sich um die Limericks ranken. Folglich sind dabei mehr die Assoziationen der Kinder gefragt. Es bleibt ein eher vages Gefühl bei ihnen zurück, das sich aber gut als Überleitung für ein Gespräch über ihre Träume und Ängste nutzen lässt."

Mit Christina Schindler sprach Thomas Thiel

 

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