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Ausgabe 37-1/1989

DIE SCHNEEKÖNIGIN

LUMIKUNINGATAR

Produktion: Päivi Hartzell / Neofilmi Oy, Finnland 1986 – Regie und Drehbuch: Päivi Hartzell, nach dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen – Kamera: Henrik Paersch F.S.C. – Schnitt: Anne Lakanen – Ton: Paul Jyräla – Musik: Jukka Linkola – Darsteller: Satu Silvo (Schneekönigin), Outi Vainionkulma (Gerda), Sebastian Kaatrasalo (Kai) u. a. – Laufzeit: 83 Min. – Farbe – Verleih: atlas film + av (16mm) – Auszeichnungen: Bester Finnischer Spielfilm 1986; Anjalankoski Filmpreis 1987

Wie 'Das Feuerzeug', 'Der kleine und der große Klaus', 'Die Prinzessin auf der Erbse', 'Der Reisekamerad' und 'Däumelinchen' gehört 'Die Schneekönigin' zu den einprägsamsten und bekanntesten Märchen des dänischen Dichters Hans Christian Andersen. Für Kinder erzählt, schwingen in ihnen eigene Kindheitserinnerungen mit, die oft bitter waren. Andersen, Sohn eines armen Schusters und einer alkoholsüchtigen Mutter, schuf feinsinnige, poesievolle Kunstmärchen, keine traditionellen Volksmärchen. Seine Erzählungen sind weltberühmt geworden, weil in ihnen seine lebhafte Phantasie, sein Sinn für versteckte Schönheiten, sein humorvolles Wissen um die Hintergründigkeit des Menschen, seine tiefe Sehnsucht nach Licht und Wärme sowie eine realistische Lebensauffassung zur Entfaltung kommen.

"Die Schneekönigin" stellt die kleine Gerda vor eine harte Bewährungsprobe. Erzählt wird die Geschichte von zwei armen Kindern, die in der Stadt leben, keine Geschwister sind, sich aber in geschwisterlicher Zuneigung verbunden fühlen. Unerwartet werden ihr glückliches Zusammensein und ihre Freundschaft zerrissen. In die Augen und ins Herz von Kai dringen Splitter vom Spiegel des Teufels. Kai wendet sich von Gerda ab. Sein Herz erstarrt zu einem Eisklumpen. Die schöne Schneekönigin hat leichtes Spiel, ihn in ihren großen Eispalast zu entführen. Er wäre rettungslos verloren, würde das Mädchen nicht unerschütterlich und unabdingbar an ihrer gemeinsamen Liebe festhalten. Mutig macht sie sich auf den endlosen Weg bis zum eiskalten Nordpol. Von einem ferngesteuerten Kahn getragen, gelangt sie ins Reich einer alten Zauberfrau. Die einsame Alte, nicht böse, aber eigennützig, möchte Gerda bei sich behalten. Deshalb raubt sie ihr die Erinnerung. Ihre Tränen und ihre Gedanken kann Gerda auf Dauer nicht unterdrücken, und so nutzt sie die Gelegenheit zu entkommen. Sie vertraut sich einer Krähe an, die sie zu einem Schloss führt, in dem eine kluge junge Prinzessin ihr Heiratslager aufgeschlagen hat. Verwirrt vermutet sie Kai im Liebesbett, aber er hat sie nicht betrogen und ihr Schrecken bleibt irreal. Das fremde Prinzenpaar verhilft ihr zu kostbaren Kleidern und zur Weiterfahrt in einer goldenen Kutsche. Magisch zieht Gold Räuber an. Der überfall bleibt nicht aus. Doch ein solidarisches Räubermädchen leiht ihr sein wunderschönes Rentier, das sie näher ans Ziel bringt. Eine alte Lappin und eine kluge Finnin leisten noch einmal wertvolle Hilfe. Den letzten Schritt zur Befreiung muss Gerda jedoch alleine tun. Sie überwindet Schrecken und Kälte, fasst frischen Mut und erlöst Kai durch ihre Tränen aus der Erstarrung. Die Schneekönigin ist machtlos dagegen. Innerlich gestärkt und wieder vereint, kehren beide als erwachsene Kinder ins Leben zurück.

Die finnische Regisseurin Päivi Hartzell richtet sich äußerlich nach dem Verlaufsschema des Märchens von Andersen. Man kann die verschiedenen Stationen und einige Motive (den Kahn, die Grenadiere, das Schloss, das Prinzenpaar, die goldene Kutsche, die Räuber, das Rentier etc.) wiedererkennen. Ihre Interpretation verlagert jedoch die Schwerpunkte, verändert die Schauplätze und Figuren. Inszeniert wird zeitgemäß und mit einigem Aufwand. An die Stelle des unheilvollen Bildes vom geborstenen Spiegel des Teufels, dessen Splitter die Sinne Kais erstarren lassen, tritt die phantastische Geschichte vom grünen Kristall. Wer in seinen Besitz gelangt, wird zum Herrscher der Welt. Aber nur die wärmende Hand eines Menschen kann ihn aus einer eisigen Quelle hervorholen. Grund genug für die machtbesessene Schneekönigin, Kai in ein kaltblütiges Abenteuer zu stürzen und ihn zu ihrem Prinzen zu verdinglichen. Dadurch wird eine neue Rahmenhandlung geschaffen, die sich durch den ganzen Film zieht, scharfe Kontraste setzt und die irdischen Abenteuer Gerdas mysteriös überlagert. Ihre Funktion ist vorwiegend dramaturgisch. Die Verzahnung beider Geschichten erweitert den Aktionsradius, erzeugt höhepunktartige Spannungsmomente und sorgt für ein atemloses Ein- und Umsteigen.

Im Gegensatz zu filmischen Märchenversionen, die sich um einen historisch konkreten, realitätsnahen Inszenierungsstil bemühen, an Originalschauplätzen drehen, Studioaufnahmen und Atelierbauten vermeiden, knüpft der finnische Film an einen teils rokokoartigen, teils eklektizistischen allgemeinen künstlerischen Stil an. Der artifizielle Innenraum und das exaltierte Verhalten einer einst berühmten Primaballerina werden herausgestrichen. Im Schloss, in dem sich ein Prinzenpaar köstlich amüsiert, herrscht in großen Treppenhäusern eine zwielichtige, theatralische Atmosphäre, in der zwei halbnackte Liebesdiener mit leuchtenden Kerzenständern nicht fehlen dürfen. Die Landschaften, Wälder und Gärten, die Gerda durchirren muss, sind in ein warmes und helles Licht getaucht und an keine bestimmbare Region gebunden. Noch diffuser ist das ins kosmische Jenseits verlagerte Reich der kalten Stürme, eisigen Gebirgs- und attrappenförmigen Gipfellandschaften, in dem die Schneekönigin haust. In kalten Blau-, Grün und Weißtönen gehalten, stehen ihre Auftritte im dunklen Kontrast zur diesseitigen bunten Welt der Menschen. Die musikalische Untermalung wechselt entsprechend. Sie lässt die Klangwelt harmonischer Nähe umschlagen in die elektronisch verzerrten unheimlichen Töne einer fernen Welt und steigert unaufhörlich Emotionen.

Die Schneekönigin, von Andersen als märchenhaft schöne Dame gekennzeichnet, wird zur Peitschen knallenden Eisrevuehexe stilisiert, die sich Kai als Sklavenjüngling mit Pagenlook hält und ihn zum Spielball ihrer Begierde macht. Ähnlich verhält sich die vereinsamte Solotänzerin in ihrem Domizil. Sie folgt ihrem Spleen, den Kunstnachwuchs zu fördern und tyrannisiert Gerda, die unter ihrer Fuchtel bis zum Umfallen Ballett tanzen muss. Bewusst gestaltet die Regisseurin mit ihren übermächtigen Frauengestalten ein extrem possessives und libidinös fast perverses Verhältnis zu den armseligen kleinen Kindern, die ständig Gefahr laufen, missbraucht zu werden. Für die gutherzige Gerda, die allen Anfechtungen zum Trotz tapfer zu ihrem Kai steht, hat Hartzell ein adrettes, gut aussehendes Mädchen mit strahlenden Augen und Rosenmund ausgewählt. Sie trägt schöne Kleider, schläft unruhig, ängstigt sich und spielt noch in einem weißpelzigen Schutzmantel gehüllt ein liebenswert liebliches Mädchen, das ihr Püppchen und Kai nie vergisst.

Ist der erste Teil des Films noch viel versprechend und im Stil einer oft skurrilen Märchenoper angelegt, fällt der zweite Teil stärker ab. Das liegt daran, dass die wiederkehrenden Schnittmuster, Kontraste und Detailaufnahmen sich allmählich abnutzen und ihren magischen Reiz einbüßen. Zudem verliert sich die märchenhafte Stimmung in einer Effekt haschenden Mischung von seltsamen Abenteuern, brutalen Kampfszenen und wortreich-raunenden Beschwörungsritualen. Bei einem langen, furiosen Finale wird die Poesie des Andersenschen Märchens verspielt. Ein offenbar unverzichtbarer Sonnenuntergang leitet zum verkitschten Ende über, das die beiden Kinder Hand in Hand nicht ins Leben zurückholt, sondern in einem nostalgischen Poesiealbum und Fantasy-Streifen gefangen hält.

Helmut Kommer

 

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