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Ausgabe 45-1/1991

KARLA

Produktion: DEFA-Studio für Spiel Spielfilme, Gruppe 'Berlin', DDR 1965/1990 – Regie: Herrmann Zschoche – Drehbuch: Ulrich Plenzdorf, Herrmann Zschoche – Kamera: Günter Ost – Schnitt: Brigitte Krex – Musik: Karl-Ernst Sasse – Darsteller: Jutta Hoffmann, Jürgen Hentsch, Hans Hardt-Hardtloff, Inge Keller, Rolf Hoppe u. a. – Laufzeit: 130 Minuten – s/w, Totalvision – Verleih: Progress Filmverleih (35mm) – Altersempfehlung: ab 14 J.

"Karla" war Herrmann Zschoches "Kellerkind", sein vierter Spielfilm, gedreht nach einem Debüt-Szenarium von Ulrich Plenzdorf, verboten nach dem unseligen 11. Plenum des ZK der SED 1965, das nahezu eine ganze Jahresproduktion der DEFA in den Orkus des Vergessens und Verschweigens zu stoßen versuchte – mit vernichtenden Adjektiven wie skeptizistisch, nihilistisch, partei- und staatsfeindlich. – Am 4. November 1989, bei der vornehmlich von Künstlern und Kulturschaffenden initiierten Protestdemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz, fragte ich Zschoche nach seinen Bemühungen um "Karla"; er aber reagierte abwartend, glaubte wohl noch nicht an die Rehabilitierung: Die "alte Garde" an den Schalthebeln der Macht schien ihm noch zu stark, als dass sie ein von ihr begangenes Unrecht aufheben müsste. Doch niemand konnte mehr aufhalten, was Hunderttausende auf den Straßen ins Rollen gebracht hatten ...

Inzwischen sind die meisten Filme des Jahrgangs 1965 uraufgeführt, auch "Karla", der sich für mich als einer der wichtigsten und schönsten der "Verbotenen" erwies. Sie vermitteln noch einmal – retrospektiv – Bilder von Hoffnungen und Träumen, von Aufbruch und Stagnation eines Landes, das es schon nicht mehr gibt. Wie in den Filmen "Das Kaninchen bin ich" (Regie: Kurt Maetzig), "Denk bloß nicht, dass ich heule" (Regie: Frank Vogel) oder "Berlin um die Ecke" (Regie: Gerhard Klein) steht in "Karla" ein junger Mensch im Mittelpunkt, der sich gegen den alltäglichen Opportunismus, das damit verbundene Duckmäusertum und die Kleingeistigkeit seiner Umgebung wehrt. Das Verlassen festgefahrener Gleise korrespondiert mit dem Wunsch, die Geschicke in die eigenen Hände zu nehmen: Was Wunder, war das den "Hausherren von morgen" – so hieß es seinerzeit immer wieder in wohltönenden Reden führender Funktionäre – doch von der Obrigkeit oft genug aufgetragen worden. Geforderte Selbstständigkeit auf der einen, Reglementierung auf der anderen Seite – ein Zwiespalt, den Zschoches Lehrerin Karla schmerzlich am eigenen Leibe erlebt.

Die ersten Szenen, noch in der Pädagogischen Hochschule, verraten so manches über die Hoffnungen jener Generation; Karla beendet ihr Studium mit einer Dankesrede, die ihr Credo verdeutlicht: "Lasst uns all unsere Mühe, unsere Leidenschaft und unser ganzes bisschen Verstand darauf verwenden, dass das Leben leichter, anmutiger und fröhlicher wird." Unbefangen und naiv tritt sie ihre erste Stelle an, irgendwo im Norden der DDR. Sie trifft auf eine Abiturklasse, in der sich die meisten eingerichtet haben: Die Jugendlichen sagen das, was man von ihnen hören will und was gute Noten bringt, mucken kaum auf, verschweigen ihre wahren Gedanken und Empfindungen. – Karla aber, als Lehrerin für Deutsch und Geschichte eingesetzt, kratzt am Lack, und unter der glatten Oberfläche treten nach einiger Zeit durchaus widerborstige Charaktere zum Vorschein. Ein Schüler, der intelligenteste und sensibelste von allen, der glaubte, sich vor der verlogenen Umwelt in Zynismus retten zu müssen, testet Karla immer wieder und wird dann fast zu einem ihrer Vertrauten. Bis ein Moment erreicht ist, an dem sie, von ihren Vorgesetzten zum wiederholten Mal zurechtgewiesen, klein beigibt.

Als Karla beginnt, vorsichtig zu werden und zu taktieren, scheint freilich alles verloren ...

Zschoche und Plenzdorf tragen ihren Appell, sich selbst und seinen Idealen treu zu bleiben, in einer direkten und offenen Art vor – ebenso unerschrocken und forsch wie ihre Heldin. Die meisten Figuren im Schüler-Lehrer-Ensemble werden widerspruchs- und gleichzeitig verständnisvoll gezeichnet; eine Ausnahme ist die Schulrätin, die mit freundlichem Lächeln, aber inquisitorischer Schärfe im Tonfall die Niederlage jugendlichen Ungestüms wesentlich befördert. Karla und diese Schulrätin sind dramaturgische Gegenpole, die die emotionale Beteiligung der Zuschauer am kräftigsten anregen. Während Karla (Jutta Hoffmann in den Fußstapfen der jungen Giulietta Masina) mit großen fragenden Augen umherschaut, die alle Details der Welt zu entdecken suchen, macht die Schulrätin Inge Kellers keinen Hehl aus ihrer linientreu-denunziatorischen Natur: Mit verkniffenem Blick nimmt sie ihr nächstes Opfer ins Visier.

"Karla", gedreht in Totalvision und Schwarzweiß, mit wunderschönen tiefenscharfen Bildern Günter Osts, ist zwar ein alter, aber längst kein veralteter Film. Denn nach wie vor macht er vielen zu schaffen: der Widerspruch zwischen aktiver, kontinuierlicher Wahrheitssuche und Anpassung, zwischen dem Beharren auf der eigenen Meinung und opportunistischem Schweigen. "Karla" sollte jedem Jugendlichen an der Schwelle zum Erwachsensein wenigstens einmal vorgeführt und in jeder Klasse diskutiert werden.

Ralf Schenk

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 59-1/1994 - Hintergrund - DEFA-Filme von 1965/66: Dokumente einer verlorenen Zeit

 

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