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Ausgabe 45-1/1991

LASS DIE EISBÄREN TANZEN

LAD ISBORNE DANSE

Produktion: Metronome A/S / Det Danske Filminstitut, Dänemark 1990 – Regie: Birger Larsen – Drehbuch: Birger Larsen, Jonas Cornell, nach einem Roman von Ulf Stark – Kamera: Björn Blixt – Musik: Frans Bak, Bent Fabricius-Bjerre – Darsteller: Anders Schoubye (Lasse), Tommy Kenter (sein Vater), Birthe Neumann (seine Mutter), Paul Hüttel (Zahnarzt) u. a. – Laufzeit: 90 Minuten – Farbe -Vertrieb und Verleih: Matthias-Film (16mm; ab Oktober 1991) – Altersempfehlung: ab 10 J.

Mit den Augen eines Zwölfjährigen sieht die Welt wirklich seltsam aus, jedenfalls ganz anders als mit sechs Jahren, und mit Sicherheit hat man sie mit sechsunddreißig wieder aus einem total unterschiedlichen Blickwinkel im Visier – aber diese Erfahrungen kann man wohl erst mit plus-minus zweiundsiebzig reflektieren. Lasse ist zwölf, und er schert sich den Teufel darum, was vorher war oder danach sein wird. Er hat genug damit zu tun, was jetzt ist und wie er damit klarkommt, und das ist – weiß Gott! – ein ganzer Sack voll Probleme. Allein die Schule! Lasse kommt sich vor wie der einzig Normale in einem Haus voller Spinner, von denen die Lehrer die schlimmsten sind. Diese Einseitigkeit der Wahrnehmung bleibt natürlich nicht ohne Folgen für Lasse und auch nicht für seine Eltern. Der Vater tut Lasse richtig leid, als er in die Lehrerkonferenz zitiert wird und sich über die Ungeratenheit seines Sohnes aufklären lassen muss.

Der Vater ist nämlich einer der wenigen Menschen auf der Welt, mit denen Lasse sich ganz gut versteht, fast wie mit einem Kumpel. Und er hat auch Verständnis dafür, wenn der Vater auf Lasses Frage, was er sich zum bevorstehenden Weihnachtsfest wünsche, lakonisch antwortet: "Frieden". Damit ist es schon bald vorbei, denn just am Weihnachtsabend kommt es mitten in dem kindischen Ringelreihen um den Tannenbaum zum Knall. In dem Riesenberg der verzwickt verpackten Geschenke erwischt Lasses nicht mehr taufrische, aber attraktive Mutter zufällig ein an sie adressiertes Paket, und darin ist ein teures Geschenk samt einem an Deutlichkeit nicht zu übertreffenden Brief von ihrem Liebhaber. Die ganze versammelte Familie erstarrt, und der Vater flüchtet in die nächste Kneipe.

Folge dieser ungemütlichen Situation ist der Umzug von Mutter und Sohn in das auf New Wave gestylte Haus des neuen Lebensgefährten und Vaters, eines wohlhabenden Zahnarztes. Der beginnt sofort mit Lasses Umerziehung und gibt, sobald ihm sein albernes Turteln mit Lasses Mutter einmal Zeit lässt, nicht eher Ruhe, bis Lasse völlig umgekrempelt ist, was allein schon sein neues Outfit mit Intellektuellenbrille und Schicki-Micki-Klamotten dokumentiert. Eifersüchtig beobachtet dies die ältere neue Stiefschwester von Lasse, eine frühreife verwöhnte Göre mit dem monotonen Hang zum Oberflächlichen, die mit allen Tricks Stolperdrähte für Lasse spannt. Aber der lässt sich nicht beirren. Seine neue Rolle macht ihm Spaß, und bald ist er der Primus seiner Klasse, sehr zum Erstaunen seiner Altersgenossen und Lehrer, die Lasses Metamorphose sozusagen mit offenem Mund verfolgen.

Lasse sieht alles wie einen Film im Kino, in dem er selbst zufällig Hauptdarsteller und Regisseur zugleich ist. So tut es ihm unheimlich gut, wenn er in "seinem" Film ab und zu einfach die Eisbären tanzen lassen kann. Gibt es für einen Zwölfjährigen ein passenderes Synonym für den Irrsinn dieser Welt?

Birger Larsens erstaunlicher Debüt-Spielfilm lief bei den Lübecker Nordischen Filmtagen (November 1990) im Kinderfilmprogramm, und diese Platzierung war, so ist zu vermuten, von den Organisatoren wohl weniger programmatisch als provozierend gemeint (und nicht wenige erwachsene Zuschauer haben sich provozieren lassen). Diese Vermutung macht einmal mehr den sympathisierenden Hinweis darauf nötig, dass bei den skandinavischen Filmproduzenten nicht unbedingt Schubladen geöffnet werden ("Kinderfilm", "Jugendfilm", "Erwachsenenfilm"), wenn sie einen neuen Film planen. Wenn sie einen guten Plot haben, fragen sie nicht zuerst nach den Adressaten, sondern versuchen erst einmal, einen guten Film daraus zu machen. Zahlreiche positive frühere Filmbeispiele belegen diese Beobachtung ("Ich bin Maria" "Gummi Tarzan", "Insel der Kinder", "Stine", "Mein Leben als Hund" u. a.) und machen deutlich, dass viele dieser Filme ein universelles Publikum finden, weil es gute Filme sind, die viele Schichten und Gruppen erreichen.

"Lass die Eisbären tanzen" ist aus der Sicht des Rezensenten wieder so ein Beispiel, und es erscheint angesichts des beachtlichen Resultats müßig, die Frage zu stellen, ob die Programmplatzierung richtig war. Wichtig ist wohl einzig die subjektive Feststellung, dass ein veritabler Kinofilm zu sehen war, der die eineinhalb Stunden seiner Laufzeit zu neunzig kurzweiligen Minuten werden lässt. Die dabei eingesetzte Dramaturgie ist ungewohnt, anders ausgedrückt: Sie ist unbekümmert um Sehgewohnheiten, nimmt Sprünge und Brüche nonchalant in Kauf und spielt damit, sie drückt aufs Tempo, pfeift auf logische Continuity und setzt lieber auf Überraschung im Szenenablauf und in den Dialogen. "Frechheit siegt", von diesem Motto hat sich Regisseur Larsen offenbar leiten lassen und damit voll auf Risiko gesetzt. Was fast noch erstaunlicher ist: Sein Produzent hat nicht versucht, seine charmante Ecken-und-Kanten-Dramaturgie glatt zu hobeln. Glückliches Dänemark, wo Unterhaltung im Kino noch kein Schimpfwort ist und nicht als Oberflächlichkeit diffamiert wird! Gespür für Kino steckt dahinter!

Klar, wenn's um eine Anhäufung von ausgeleierten Platitüden ginge, wäre man schon kritischer. Aber wenn man, wie hier, mit Genuss verfolgen kann, mit welcher Chuzpe die zahllosen Gags eingefädelt werden, wie mit Sinn für Ironie versteckte Seitenhiebe auf gesellschaftliches Besitzstandsdenken verteilt werden – dann wird wohl Zustimmung erlaubt sein. Die Qualität des Films steckt mehr in den mini-episodischen Details als in der großen dramatischen Gebärde, und das macht ihn einerseits sympathisch, lässt natürlich andererseits, wie geschehen, die Frage aufkommen, ob er sein Thema, die Situation von Kindern in getrennten Ehen, nicht auf die allzu leichte Schulter nimmt. Darüber kann, wird und soll diskutiert werden, aber bitte nicht unter Ausschluss des Humors! Die Filmgeschichte ist angefüllt mit Filmen, die mit schweren Problemen leichtfüßig umgehen, und der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt hat schon vor Jahrzehnten behauptet: "Nur die Komödie kommt uns noch bei."

Und die eingangs gestellte obligatorische Frage, ob's denn nun ein Kinder- oder Erwachsenenfilm ist? Die Empfehlung lautet: Ausprobieren! Der Filmjunge Lasse wird bei Kindern viel Sympathie finden, und Erwachsene werden sich, sofern sie noch Sinn für hintergründigen Witz haben, in vielen Details wiedererkennen. Und wer noch nicht verlernt hat, einen Film auch zwischen den Bildern zu verstehen, der wird dort auch den Ernst finden, die Tragik und die Trauer, ohne die das Zusammenleben der Menschen nicht auskommt. Verändern wird daran, soviel ist wohl allemal klar, sowieso kein Film etwas.

Bernt Lindner

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 91-1/2002 - Interview - "Bei einem guten Kinderfilm sollte man alle Fäden wieder zusammenbringen"
KJK 91-1/2002 - Hintergrund - Porträt Ulf Stark

 

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