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Ausgabe 103-3/2005

... von der Stimmung des Films und ihrer eigenen Ausstrahlung als Klasse sehr beeindruckt

Gespräch mit Hubertus Siegert zu seinem Film "Klassenleben"

(Interview zum Film KLASSENLEBEN)

KJK: Worauf kam es Ihnen bei den Dreharbeiten vor allem an?
Hubertus Siegert: "Ich wollte einen Dokumentarfilm drehen, bei dem ich beobachte, wie sich einzelne Kinder in dieser ungewöhnlichen Klasse entwickeln, und herausfinden, wie man das mit der Kamera beobachten und zu einem Film zusammenfügen kann. Ich wollte also keine Dokumentation über das Konzept dieser Schule machen, sondern sehen, was wirklich in der Klasse passiert und die Kinder kennen lernen."

Wie kamen Sie zu diesem Projekt?
"Ich kenne die Lehrerin der gefilmten Schulklasse schon seit 1995. Damals haben wir an vielen Schulen in Berlin ein Casting gemacht, um Kinder-Darsteller für einen kleinen Spielfilm zu finden. Die entdeckten wir dann fast alle in einer Klasse der Fläming-Grundschule, bei Gudrun Haase, in ihrer damaligen Integrations-Klasse. Die Klasse hatte eine erstaunliche Mischung von behinderten und begabten Kindern, also nicht nur ein, zwei Behinderte in einer großen Klasse gesunder Kinder, es gab ein Kind mit Down-Syndrom, ein Kind, das angegurtet im Rollstuhl saß und nicht sprechen konnte, und drei weitere Kinder, an deren genaue Behinderung ich mich nicht erinnere. Diese Mischung hatte offensichtlich eine positive Wirkung, denn die Kinder und gerade auch die Begabten waren sozial sehr weit, außerdem konnten sie gut spielen, ohne Kindertheater-Tingel-Tangel, da die Lehrerin mit Leib und Seele Theaterpädagogin ist. Seitdem gab es die Option, einen Kinofilm über dieses Klassenmodell zu machen, es fehlte nur noch der konkrete Anlass. Acht Jahre später, Ende November 2003 habe ich Frau Haase wieder getroffen, ganz privat, um mit ihr über die Einschulung meines Sohnes zu sprechen. An diesem Abend hat sie viel von ihrer Klasse Elfjähriger erzählt und irgendwann habe ich sie gefragt, ob sie es riskiert, dass ich einen beobachtenden Film über ihre 5d drehe. Sie hat sofort zugesagt."

Wie kam es zur Entscheidung für die Klasse 5d der Fläming-Schule?
"Soweit mir bekannt ist, gibt es nur an der Berliner Fläming Grundschule diese hohe, 25-prozentige Mischung an Behinderten in Regelklassen. Die Modellklasse ist seit Gründung der Schule 1975 stetig die vierte, die d-Klasse eines Jahrgangs. Wir haben in allen sechs Jahrgängen Probeaufnahmen dieser Klassen gemacht und uns dann doch für die Elfjährigen von Frau Haase entschieden, ein ideales Alter, sie sind schon sehr bewusst, aber vor der Pubertät noch wirklich Kinder."

Wie haben Sie die Eltern und Schüler zur Mitarbeit bewegen können, zumal die Schüler auch viel von sich preisgeben müssen?
"Das ist bei einem beobachtenden Dokumentarfilm immer das Problem: die Genehmigung der Beteiligten. Solche Projekte können selbst noch beim Endschnitt am Widerstand der Beteiligten scheitern. Doch Offenheit ist die größte List. Ich habe möglichst alles gleich offen gelegt. Besonders habe ich die Eltern gewarnt, dass es für ihre Kinder heikel werden könnte, wenn sie sich auf der Leinwand öffentlich sehen. Und es war tatsächlich hinterher nötig, dass ich mit den Kindern über ihre Leinwanddarstellung gesprochen habe. Schon aus Eigeninteresse habe ich das gemacht, denn ich hatte den Kindern ein Vetorecht gegen die Verwendung jeder Aufnahme versprochen – es gab dann auch längere Auseinandersetzungen zu einzelnen Szenen und Sätzen. Mit dieser Offenheit wurden auch die Eltern überzeugt, denn die hatten mitunter auch andere Vorstellungen von ihrem Kind, als der Film zeigt."

Diente Ihnen der Film "Sein und Haben" von Nicolas Philibert als Vorbild?
"Der Erfolg seines Films hat gezeigt, dass es ein Kinopublikum dafür gibt. Das hat mir bei der Finanzierung geholfen und ich muss Philibert dafür danken. Andererseits lag die Latte nun sehr hoch, denn Philibert hatte mit seinem Film in Frankreich und international einen gigantischen Erfolg, ich war also sofort in der Defensive. Ich habe aber von Anfang an einen anderen Blickwinkel auf Kinder und Lehrer angestrebt als er. Ihm kam es, scheint mir, auf die Überzeugungskraft seines Helden, des Lehrers an. Ich wollte insbesondere die Perspektive der Kinder konsequent einhalten: möglichst ihre Standfestigkeit, Zweifel und Gefühle verfolgen. Ich habe mir 'Klassenleben' nie als Replik auf Philibert gedacht, aber der Film sieht jetzt nach einer skeptischen Antwort auf ihn aus."

Sie haben sich im Film auf wenige Schüler konzentriert. Wie kam es zu dieser Auswahl, bei der sich die anderen zurückgesetzt fühlen können?
"Dass nur fünf Kinder im Mittelpunkt stehen konnten, war eigentlich jedem sofort klar, auch den Kindern. Aber wer es sein würde, habe ich nicht gesagt – ich wusste es selbst nicht. In meinem Exposé habe ich zwar behauptet, ich hätte schon meine Protagonisten, das muss man beim Dokumentarfilm einfach machen, denn die Finanziers des 220.000 Euro-Projekts wollen vorab wissen, auf was sie sich einlassen. Aber bei den Dreharbeiten musste ich den Zufall viel ernster nehmen als das Skript. Zunächst filmten wir spontan, was im Unterricht oder vorher und nachher passierte. Über die Zeit grenzt sich eine solche Arbeit dann selbst ein. Durch einen glücklichen Zufall haben wir uns schon die ersten Tage auf einen Vierer-Tisch konzentriert, von dem gleich drei Kinder – Luca, Marwin und Christian – sich als geeignete Protagonisten herausstellten. Von dieser Ausgangsbasis her wurde erst Monate später klar, dass Johanna und Dennis die Protagonisten ergänzen müssten."

Und wie haben die Schüler, die nicht im Mittelpunkt standen, reagiert?
"Sie konnten nicht wissen, ob sie im fertigen Film sein würden oder nicht, denn sie wurden ständig mitgefilmt. Später, als sie die Auswahl begriffen haben, waren einige enttäuscht, aber auch erleichtert, denn sie sahen dann, was es bedeutet, als Protagonist auch angreifbar zu sein. Alle Kinder haben überraschend sentimental auf den fertigen Film reagiert. Sie waren von der Stimmung des Films und ihrer eigenen Ausstrahlung als Klasse sehr beeindruckt, sie fanden, dass sie 'damals' bei den Dreharbeiten 'so irre aktiv' gewesen seien. Das Erstaunliche war, dass die Kinder ihre Gegenwart in der Klasse nach dem Film als weniger intensiv, weniger aktiv empfanden – wobei mir die Klassenlehrerin bestätigte, dass sich seitdem nichts wesentlich geändert habe. Die Ausdrucksmöglichkeiten eines Kinofilms scheinen ein weit eindrucksvolleres Bild ihrer damaligen Welt geprägt zu haben, als es die Bilder ihrer eigenen unmittelbaren Erinnerung vermögen."

Welches dramaturgische Konzept liegt dem Film zugrunde?
"Unser Montage-Konzept war nach dem Dreh nicht notwendig festgelegt, denn der Zufall hatte uns diverse Hauptfiguren mit einer Menge brauchbarer Szenen geschenkt. Das Einzige, was feststand war, dass der Film die Chronologie des Schulhalbjahres vom Winter in den Sommer beibehalten würde. Der Cutter Bernd Euscher und ich haben aus den hundert Stunden Ausgangsmaterial schrittweise die fertige Struktur entwickelt, indem wir uns auf alle sich anbietenden Konflikte konzentriert haben. Zunächst waren es sechs, später fünf Protagonisten, bei denen wir die wichtigsten Ereignisse herausgefiltert haben, ihre Konflikte mit der Autorität der Lehrerin, ihr Kampf um die Position in der Klasse oder ihren Arbeitsgruppen, ihr Verstehen und ihr Nicht-Verstehen. Dann haben wir diese Erzählstränge so miteinander verschachtelt, dass sich der Verlauf des Schuljahres abbildet und darin möglichst viele Fallhöhen entstanden."

Warum ist Frau Haase die Einzige, die ansatzweise in einer Reflexion über ihr Tun zu Wort kommt?
"Die Protagonisten reflektieren eine ganze Menge über sich und die Klasse, aber sie tun dies aus dem Off in der Art eines Kommentars. Wir wollten ihre Statements, aber wir wollten nicht die Szenen immer wieder durch Interviewbilder unterbrechen. Daher die Form des Off-Kommentars der fünf Protagonisten. Gudrun Haase, die Antagonistin, konnte also nicht plötzlich in die Kinderperspektive einbrechen und aus dem Off sich selbst kommentieren. An der Stelle, wo sie ihre Autorität gegenüber Christian übertreibt, hatten wir das Glück, bei einer Supervision ihres Teams bei dem Psychologen der Schule dabei zu sein. Dort spricht die Lehrerin ihre eigenen Grenzen an, spricht ganz selbstverständlich über ihre Ungerechtigkeit dem Jungen gegenüber und ihre Motive, sich so zu verhalten. Das finde ich großartig, zum einen, weil an der Schule offen darüber gesprochen wird, zum anderen, weil sie sich dabei auch noch filmen und das an die Öffentlichkeit dringen lässt. Obgleich Frau Haase am Ende als Klassenlehrerin den Daumen drauf hat, gibt es bei ihr offene Auseinandersetzungen und die Kinder werden dazu angehalten, Farbe zu bekennen. Diesen Punkt, lernen, tolerant Farbe zu bekennen, finde ich sehr wichtig, denn es ist der Kern von Frau Haases Erziehung."

Der Verzicht auf jeglichen Kommentar ist die eine Sache, aber warum erfahren die Zuschauenden kaum etwas über das Modell der Flämingschule?
"Ich habe diesen Dokumentarfilm nicht speziell für Pädagogen, sondern vor allem für ein Kinopublikum gemacht. Dieses will zunächst ein audiovisuelles Erlebnis haben. Meine Zielgruppe sind alle, die mit Kindern zu tun haben, besonders die Eltern in Deutschland, die Kinder in der Schule haben und sich fragen, was da passiert, wie sich Unterricht für Kinder anfühlt. Normalerweise kommen Eltern nicht in den Unterricht und wissen auch gar nicht aus eigener Anschauung, was dort heute vor sich geht. Da fand ich es sinnvoll, einen emotionalen Raum für die Auseinandersetzung mit Pädagogik zu öffnen, wobei zwei Fragen besonders spannend sind: Wie autoritär muss ein Lehrer eigentlich sein? Und was für Möglichkeiten bietet die Integration als Reformmodell? Mich interessierte der konkrete Blick in eine Klasse nicht zuletzt vor dem Hintergrund der viel zu abstrakten Diskussion um die PISA-Studie."

Das Interview mit Hubertus Siegert führte Holger Twele

 

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