Produktion: Tunesische Filmgesellschaft, Tunesien 1986 – Regie und Buch: Nouri Bouzid – Kamera: Youssef Ben Youssef – Schnitt: Mika Ben Miled – Musik: Salah Mahdi – Darsteller: Imed Maalai (Hachemi), Khaled Ksouri (Farfat), Habib Belhadi (Touil), Mohamed Drif (Assaiez), Mustafa Adouani (Ameur) u. a. – Länge: 105 Min. – Farbe – Altersempfehlung: ab 14 J.
Die Medien haben mit dazu beigetragen, dass ein traditionelles Gesellschafts-Tabu, der sexuelle Missbrauch von Kindern, in die öffentliche Diskussion geriet. Die Grenzen zwischen engagierter Parteilichkeit zugunsten der Opfer und kalkulierter Kommerzialisierung sind oft fließend. Die seit Jahren anhaltende unübersichtbare Flut der Filme und TV-Dramen, die authentische Vorfälle vermarkteten oder fiktive Unterhaltungsware anboten, klingt lange noch nicht ab.
Zu den wenigen ernst zu nehmenden und außergewöhnlichen Aufarbeitungen dieses Themas gehört der tunesische Spielfilm "Der Mann aus Asche", der angesichts des kulturellen und politischen Hintergrundes seiner Produktions- und Rezeptionsbedingungen an Bedeutung gewinnt. Im Mittelpunkt der in Sfax spielenden Handlung stehen die beiden gemeinsam herangewachsenen Jungen Hachemi und Farfat, die von ihrem Ausbilder und späterem Arbeitgeber Ameur mehrmals vergewaltigt wurden. Die traumatischen Kindheitserlebnisse bedrängen besonders Hachemi, der sich auf seine von den Familien arrangierte Hochzeit vorbereiten soll. Sein Verhältnis zu Frauen ist nachhaltig gestört; Sexualität empfindet er als unangenehm und bedrohlich. Farfat, ein leichtfertiger, haltloser Typ, betäubt sich mit Alkohol und möchte seiner Vergangenheit am liebsten durch eine Flucht in die Ferne entkommen.
In ihrer Perspektivlosigkeit gleichen die beiden Freunde ausgebrannten 'Männern aus Asche'. Aber die Glut ist noch heiß, und wer sie anfasst, verbrennt sich. Hachemi befreit sich von den engen Familienbanden und vertraut sich dem alten Juden Levy an, der ihm die wesentlichen Lebensweisheiten vermittelt. Seine Hochzeitsnacht verbringt Hachemi im Bordell. Eine erfahrene Prostituierte nimmt sich seiner an, befreit ihn vor seiner Blockade gegenüber Frauen und von der Angst, zu versagen. Farfat findet endlich die Kraft für einen Durchbruch. Er lehnt sich gegen den verhassten Ameur auf und tötet ihn. Seinen Verfolgern entkommt er mit viel Glück und Geschick in eine unbekannte Zukunft – selbstsicher und unbekümmert wie ein junger Jean-Paul Belmondo in den frühen De Broca-Komödien.
"Der Mann aus Asche" – die Kindheitsgeschichte zweier Jugendlicher aus Tunesien – ist auch für ein europäisches Publikum ein provozierender Film. Er spiegelt gängige Normen und Verhaltensweisen wider, die nicht auf den arabischen Kulturkreis beschränkt sind. In ihrer Allgemeingültigkeit stehen sie für die vielen restaurativen Kräfte in allen Gesellschaften, die unter dem vorgeblichen Schutz der Familie einer öffentlichen Erörterung unbequemer Wahrheiten entgegen arbeiten. Der Film sorgte trotz dezenter, zurückgenommener Bilder und einer sensiblen Herangehensweise an sein Thema seinerzeit für einen großen Skandal: Ein Jude und eine Prostituierte, die einem von seinem Arbeitgeber vergewaltigten tunesischen Jungen helfen – das war für viele zuviel. Die arabischen Fundamentatlisten warfen dem Regisseur Zionismus vor und taten alles, um den Film zu boykottieren. Dabei wollte Nouri Bouzid nur endlich den Panzer durchbrechen, der sich über Generationen hinweg um die patriarchalische tunesische Familie gelegt hatte. Die begeisterte Resonanz, die der Film dann beim Kinopublikum fand, verhinderte sein Verbot und ermöglichte seinem Regisseur weitere unbequeme Filme (u. a. "Halfaouine", "Zeit der Träume"), in denen er andere verdrängte Themen anging.
Horst Schäfer
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