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Ausgabe 65-1/1996

"Unsere größte Furcht ist, anders zu sein als die anderen"

Gespräch mit Gary Ledbetter, Regisseur des Films "Henry und Verlin"

(Interview zum Film HENRY UND VERLIN)

Beim Kinder- und Jugendfilmfestival in Frankfurt am Main 1995 gewann der kanadische Film "Henry und Verlin" sowohl den Hauptpreis 'Lucas' als auch den CIFEJ-Preis. Der Autor und Regisseur Gary Ledbetter erzählt in seinem Debütspielfilm einfühlsam die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einem neunjährigen autistischen Jungen und seinem geistig zurückgebliebenen Onkel. KJK-Mitarbeiter Reinhard Kleber und Lutz Gräfe sprachen in Frankfurt mit Gary Ledbetter.

KJK: Warum haben Sie ein so schwieriges Thema für den ersten langen Spielfilm gewählt?
Gary Ledbetter: "Die Geschichte lag mir nah, weil sie auf Kurzgeschichten meines Vaters beruht. Außerdem wollte ich die Herausforderung durch zwei stumme Hauptcharaktere. Film bedeutet für mich Bilder. Nach meiner Ansicht wird in vielen Filmen zu viel gesprochen. Für mich sind die richtigen Filme die stummen. So habe ich mich der Herausforderung gestellt, eine Geschichte mit so wenig Worten wie möglich zu erzählen. Zudem wollte ich einen Film mit viel Gefühl machen."

Haben Sie den Film auch selbst produziert?
"Nein, ich habe einen Partner; meine Gesellschaft und die meines Partners John Board bildeten eine weitere Gesellschaft, die den Film dann produzierte. John Board ist seit dreißig Jahren im Filmgeschäft. Er arbeitet seit zwanzig Jahren als erster Regieassistent für David Cronenberg und hatte großen Einfluss auf die Entstehung meines Films. Cronenberg übernahm auch eine kleine Rolle, weil er und mein Partner gute Freunde sind. Seine Filme sind verdreht und sonderbar, aber er ist ein supernetter Familienvater."

Die Eltern und Verwandten der beiden Hauptfiguren werden hin und her gerissen zwischen ihrer Liebe und der Rücksichtnahme auf die Nachbarn. Haben Sie auch solche Erfahrungen, denn diese Szenen sehen sehr realistisch aus?
"Ja, ich hatte meinen eigenen Henry. Ich habe mich mit Geisteskranken beschäftigt, mit Menschen, die sich nicht mehr um sich selbst kümmern konnten, die für sich selbst zu einer Gefahr wurden. Daher war es besser, sie eine Zeitlang in ein Krankenhaus zu geben. Du weißt, du liebst sie, du willst sie nicht dorthin bringen. Aber du bringst sie dorthin für ihr eigenes Bestes, bis es ihnen besser geht und sie keine Gefahr mehr für sich selbst darstellen. Ich musste zwar nicht meinen eigenen Bruder weggeben, wie Verlins Vater im Film, aber es war gefühlsmäßig wahr, ich habe das gleiche Gefühl gehabt. Ich habe es bedauert, denn wenn man jemanden in eine Anstalt gibt, wird das Vertrauen ruiniert. Man braucht ewig, um darüber hinwegzukommen. Sogar wenn es nur einmal geschieht und sich der Kranke erholt.
Unsere größte Furcht ist, anders zu sein als die anderen. Ich glaube, das ist der Grund, warum Leute, die anders, verrückt oder gehandicapt sind, uns erschrecken. Vieles an den Reaktionen der Leute, die Vorurteile und der Rassismus, kommen aus der Furcht vor sich selbst, weil wir alle ein bisschen in dieser Art sind. Wir sind alle ein bisschen wie Henry oder Verlin. Sogar wenn wir träumen. Wir verbringen ein Drittel unseres Lebens ohne Kontrolle, denn wir können unsere Träume nicht kontrollieren. In gewisser Weise ist das wie Verrückt-Sein, denn man hat keine Kontrolle über das, was man träumt."

Wie haben die Kinder im Publikum auf die beiden Außenseiter im Film reagiert?
"In einem gewissen Alter, wenn sie neun, zehn Jahre oder älter sind, reagieren sie sehr stark. Sie werden von Verlin angezogen und fürchten mit ihm. Und sie werden von Henrys Charme angezogen. Wenn sie in diesem Alter beginnen zu erkennen, dass nicht alle gleich, sondern unterschiedlich sind, dann mögen sie es, dann können sie einen Bezug herstellen und sich fürchten. Viele kleine Mädchen, die den Film sahen, weinten und lachten, sie verstanden ihn gut. Für noch jüngere Kinder enthält der Film zuviel Dialog, um das Interesse wach zu halten."

Und wie ist es bei älteren Kindern?
"Teenager sind schwieriger zu erreichen, weil sie etwas Cooles und Schnelles sehen wollen und etwas, das sexy ist. Obwohl ich Mädchen getroffen habe, die den Film lieben. Bei Jungen war es schwieriger, sie dazu zu bewegen, den Film zu sehen und dazubleiben. Ich traf aber auch ältere Leute, die den Film sehr mögen. Es ist ein Film, zu dem man sein neunjähriges Kind mitnehmen kann oder seine Großeltern. Ich habe versucht, einen klassischen Film zu machen, einen, der für lange Zeit bleibt."

Wie wählten Sie die Schauspieler aus, insbesondere den Darsteller von Verlin?
"Um Verlin zu finden, suchte ich in ganz Kanada, von Küste zu Küste, von Halifax bis Vancouver. Der Junge, den ich gefunden habe, hatte die größte Erfahrung und war der sensibelste. Er hat mit drei Jahren zu lesen begonnen. In seiner Schulklasse hat er versucht, sich Freunde zu kaufen. Er wusste also, wie es ist, anders als andere zu sein. Ich war ein bisschen besorgt, weil er ein wenig diesen Hollywood-Look hatte. Ich suchte eigentlich nach einem Kind, das so talentiert war, aber mehr von einem Landkind hatte. Manchmal funktioniert es ja umgekehrt: Es gibt viele Filme über Leute, die anders sind. In denen sehen sie auch anders aus, sie sind nicht gerade schön. In 'Henry und Verlin' ist der kleine Junge schöner als jeder andere. Bei autistischen Kindern ist es oft der Fall, man schaut in ihre Augen und die sind erstaunlich, sie scheinen eine Weisheit zu haben, die andere Kinder nicht haben. Das ist ein Teil ihrer Traurigkeit, dass sie normal aussehen, aber es nicht sind.
Der Darsteller von Verlin hat schon zehn Filme gedreht. Er ist der einzige Geldverdiener seiner Familie. Weder sein Vater noch seine Mutter arbeitet. Er ist ein sehr gescheites, empfindliches Kind. Er ist auch ängstlich: Als ich ihn in einen Baum setzte, weinte er. Er wollte auch nicht ins Wasser gehen. Mehrmals hat er sich im Waschraum eingeschlossen und wollte nicht herauskommen. Dann musste ich zu ihm gehen und ihn dazu überreden, wieder herauszukommen und weiterzudrehen."

Wo fanden die Dreharbeiten statt?
"Mein Haus steht auf einem Hügel. Das ganze Land gehört der Regierung. Wir haben ein Haus unten an der Straße von der Regierung gemietet und dort die Schauspieler untergebracht. Ein weiteres Haus um die Ecke wurde frei, so mieteten wir auch dieses Haus an, es wurde unser Produktionsbüro. Die Regierung hat uns auch das Schulgebäude, rund einen halben Kilometer entfernt, vermietet, das wurde zu unserem 'Art Department'."

Sie haben also sozusagen ein Filmstudio aufgebaut!?
"Ja, es war ein Familienfilm-Studio. Wir hatten einen jungen Stab. Viele von ihnen arbeiteten zum ersten Mal bei einem Film mit. Mein Haus diente als Hauptdrehort, sie vertrieben mich aus meinem Haus, das voller Antiquitäten ist ... Hinter meinem Haus steht ein kleiner Anhänger, der dient mir als Büro, dort schreibe ich. Also musste ich nur fünfzig Fuß zur Arbeit gehen. Für die Dreharbeiten verkleidete ich die Scheune und wohnte dort."

Wurde der Film chronologisch gedreht?
"Nein. Ich konnte zum Beispiel den Jungen wegen der gesetzlichen Regelungen nur für acht Stunden täglich einsetzen. Ich musste etwa eine Szene mit ihm drehen und ihn dann erst einmal nach Hause schicken und mit den Erwachsenen weiterdrehen. Als wir zum Beispiel die letzte Filmszene drehten, in der Henry und Verlin von der Brücke ins Wasser springen, weinte der Junge, und es dauerte eine ganze Weile, ihn soweit zu beruhigen, dass er sich wieder gut fühlte. Die letzte Szene bestand eigentlich darin, dass sie erneut von der Brücke herunter springen und Hand in Hand am Fluss entlanggehen sollten, bis sie die Eltern treffen. Aber ich musste erkennen, dass dieser Junge das auf keinen Fall wieder für mich tun würde. Deshalb dachte ich mir ein anderes Ende aus, wir drehten dann auf einem Hügel, den ich gut kenne, weil ich von einer Quelle dort jede Woche mein Wasser hole."

Haben Sie das Drehbuch selbst geschrieben?
"Ja. Ich schrieb in zwei Jahren elf Fassungen. Am Schluss war es dann in einer Form, mit der die Finanziers einverstanden waren. Sie waren zunächst nervös, weil sie nicht glauben konnten, dass zwei Darsteller, die nicht sprechen, einen Film tragen können. Sie wollten einen Film wie 'Rain Man', eine Figur, die nicht spricht, und eine zweite, die für diese Figur spricht. Ich sagte nein, das wäre nicht die Magie gewesen, die ich anstrebte. Die Magie besteht gerade darin, dass sie nicht sprechen. Ich brauchte viel Zeit, um sie zu überzeugen."

Haben Sie die Story speziell für Kinder geschrieben?
"Ich habe sie für jedermann geschrieben, für alle Altersstufen, nicht speziell für Kinder. Kinder mögen den Film, aber Erwachsene auch. Nur durch Zufall hat das Festival in Laon von dem Film erfahren, nachdem jemand den Film in Cannes gesichtet und ihn dorthin empfohlen hatte. So ist der Film schließlich zu einem Kinderfilm geworden. Mittlerweile ist er nach Amsterdam und Wien, in die Schweiz, nach Indien und Tunesien eingeladen worden."

Wird Ihr nächster Film ein Kinderfilm sein?
"Nein, der nächste ist für Erwachsene. Eigentlich arbeite ich an zwei Projekten. Das eine ist eine Geschichte über eine starke Frau im Krieg zwischen Amerika und Kanada im Jahr 1812. Beim zweiten Projekt kann ich noch nichts zur Story sagen, nur über die Struktur. Ich versuche, mit der Struktur der Filmerzählung zu spielen. Ich weiß nicht, ob es funktioniert, aber ich versuche, die Geschichte von der Mitte nach außen zu erzählen. Außerdem gibt es noch ein Kinderfilmprojekt über die Zeit, in der ich in Ägypten gelebt habe. Als ich acht, neun, zehn Jahre alt war, lebte ich in Kairo. Ich lernte dort schwimmen, und jedes Wochenende verbrachte ich auf dem Pferderücken hinter den Pyramiden. Ich war dort, als Präsident Nasser starb. Es gab wochenlang Unruhen in den Straßen. In der Nähe meiner Schule explodierte einmal eine Bombe. Ich möchte das alles in einen Kinderfilm packen, ein Kind in einem fremden Land während des Krieges. Es waren meine ersten Erfahrungen mit Tod und Krieg."

Das Interview führten Reinhard Kleber und Lutz Gräfe

 

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