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Ausgabe 78-2/1999

ES BEGINNT HEUTE

ÇA COMMENCE AUJOURD'HUI

Produktion: Les Films Alain Sarde, in Koproduktion mit Little Bear, TFI Films und in Zusammenarbeit mit Canal +, CRRAV, Sofica Studio Images 5, dem französischen Kultur- und Kommunikationsministerium und SACEM; Frankreich 1998 – Regie: Bertrand Tavernier – Buch: Dominique Sampiero, Tiffany Tavernier, Bertrand Tavernier – Kamera: Alain Choquart – Schnitt: Sophie Brunet – Musik: Louise Clavis – Darsteller: Philippe Torreton (Daniel), Maria Pitarresi (Valéria), Nadia Kaci (Samia), Françoise Bette (Mme Delacourt), Christine Citti (Mme Baudoin) u. a. – Länge: 117 Min. – Farbe – Verleih: Arsenal (35mm) – Weltvertrieb: Studio Canal +, 17, rue Dumont D'Urville, F-75116 Paris, Fax: 1-4720 2958 – Altersempfehlung: ab 12 J.

In Frankreich können Kinder zwischen zwei und sechs Jahren kostenlos eine Art Vorschule besuchen, was ihnen eine pädagogisch begleitete, frühzeitige Sozialisation ermöglicht, ihre Neugier und Kreativität fördern möchte, sie auf das Schulsystem vorbereiten hilft und nicht zuletzt den Eltern erleichtern soll, beide berufstätig zu sein. Finanziell und personell sind diese Kindergartenschulen jedoch schlecht ausgestattet, oftmals in hierarchischen Strukturen erstarrt, was die Verwaltung auf regionaler Ebene betrifft und am Rande ihrer Leistungsfähigkeit, gerade in strukturschwachen Gebieten oder Regionen, die von hoher Arbeitslosigkeit betroffen sind. Hinzu kommt, dass sich parteipolitische Querelen auf Landesebene unmittelbar auf die Arbeitsbereiche und Lehrziele dieser Vorschulen auswirken, indem spielerische, soziale und künstlerische Aktivitäten der Kinder, die bisher im Vordergrund standen, zugunsten einer leistungsorientierten Vermittlung von Grundschulkenntnissen zurückgedrängt bzw. weniger gefördert werden.

Auf die Probleme dieses in die Krise geratenen Vorschulsystems öffentlich aufmerksam machen möchte Bertrand Tavernier, der sich in seinem umfangreichen Filmschaffen schon mehrmals mit Jugendthemen beschäftigt hat, in seinem neuen Spielfilm "Es beginnt heute", der dokumentarisch genau inszeniert wurde. Tavernier geht dabei von der Tatsache aus, dass die Startchancen und Lebensbedingungen dieser Kinder heute einen erheblichen Einfluss darauf haben werden, wie die Gesellschaft von morgen aussieht. Entstanden ist nicht etwa ein trockener sozialpolitischer Thesenfilm oder ein klischeebeladener "Paukerfilm", sondern engagiertes dramatisches Unterhaltungskino auf filmisch noch wenig erforschtem Neuland und mit einem Stoff aus der Alltagsrealität – sieht man bei dieser Beurteilung von solchen Kritikern ab, die mit einem Film schon deshalb nichts anzufangen wissen, weil darin viele Kleinkinder mitspielen.

Gleich zu Beginn wird deutlich, was es heißen kann, Direktor einer solchen Vorschule zu sein und die Verantwortung für Kinder zu haben, von denen viele aus problematischen Familien kommen, zumal der einstmals wohlhabende Bergarbeiterort inzwischen von extrem hoher Arbeitslosigkeit gezeichnet ist: Eine Mutter, die mit einiger Verspätung ihre Tochter abholen möchte, stürzt im Schulhof sturzbetrunken zu Boden, flüchtet aus Scham und lässt Tochter und den Sohn im Kinderwagen einfach zurück. Das Fürsorgeamt ist telefonisch nicht zu erreichen, und da die Kinder nicht der Polizei übergeben werden sollen, entschließt sich der Direktor Daniel Lefèbre, die Kinder selbst nach Hause zu bringen, obwohl das gegen die Vorschriften verstößt. Daniel versucht nach diesem Vorfall, diesen und anderen Eltern zu helfen, die am Existenzminimum leben. Er legt sich im Bemühen um das Wohlergehen seiner Schutzbefohlenen mit der Verwaltung, dem Sozialamt und den politischen Entscheidungsträgern an, findet schließlich auch Verbündete im zermürbenden Kampf gegen Geldnot, Personalmangel und Ignoranz der Behörden, die mit ihren Vorschriften nicht selten einer schnellen und effizienten Hilfe im Wege stehen.

Ein Film, der Unbehagen produziert, weil er nicht verschleiert, wie sich das Gesellschaftsgefüge in Auflösung befindet, wie sich Arbeitslosigkeit auf das Selbstwertgefühl der Betroffenen auswirkt, wie besonders auch die Kinder darunter zu leiden haben, dass den Eltern jede Perspektive und jeder Lebenssinn abhanden gekommen sind. Aber es ist auch ein Film, der fasziniert und Mut macht, weil er Menschen zeigt, die im Interesse der Kinder den hoffnungslos scheinenden Kampf gegen Strukturen, Geldmangel und Not aufnehmen, statt Dienst nach Vorschrift zu machen oder nur an die eigene Absicherung zu denken. Er zeigt die kleinen Erfolge am Rande, die über das Wohl und Wehe der Kinder, manchmal einer ganzen Familie entscheiden, spart aber auch die Überreaktionen des voller Idealismus steckenden Schulleiters nicht aus, seine Kompromisslosigkeit, seine Fehler und Schwächen. Unspekulativ geht es auch zu beim Thema Kindesmisshandlung oder beim Alkoholmissbrauch. Dieser wird nicht etwa gleich als billige Anklage gegen die Eltern ins Feld geführt, weil sie ihre Kinder sträflich vernachlässigen, sondern es werden die Hintergründe beleuchtet, warum es zu diesen Fehlentwicklungen kam, die – in einem der Fälle – zur endgültigen Zerstörung und Auslöschung der Familie führen.

Aber es sind nicht nur diese dramatischen Zuspitzungen, die den Film so sehenswert machen. In einer kleinen Szene erfährt man von den unrealistischen und unreflektierten Erwartungshaltungen mancher Eltern an die Politik, die ohne finanziellen Spielraum die Probleme in den Griff bekommen soll – und wenn aus dem traditionell linken Spektrum keine Soforthilfe kommt, dann wird eben rechts gewählt. Man erfährt auch viel vom Umgang der Pädagogen mit den Kindern, von Mal- und Spielaktionen beispielsweise, die niemals aufgesetzt wirken, sondern vom großen Vertrauen der Kinder zu den Schauspielern und umgekehrt deren Sensibilität gegenüber den Kindern zeugen. Und wo üblicherweise die dramaturgisch in Szene gesetzten, geistigen Höhenflüge der Lehrer und Aufsichtspersonen immer erst fünf Minuten vor Stundenschluss einsetzen und mit der Pause oder der Verabschiedung enden, hat man hier das Gefühl eines Kontinuums, das ein wirkliches Eingehen auf die Kinder vermittelt.

Auf der Berlinale 1999 ist der Film im Wettbewerb gelaufen und erhielt einen Silbernen Bären "wegen seiner thematischen Besonderheit". Der Goldene Bär ging allerdings an einen Kriegsfilm, der mit etwas anderen Mitteln, aber thematisch nicht gerade innovativ zeigt, wie schmutzig der Krieg ist und Natur und Menschen vernichtet. Dagegen hatten die tägliche Angst und der heutige Überlebenskampf mancher Familien natürlich keine Chance.

Holger Twele

 

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