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Ausgabe 23-3/1985

"Der Heuschreck und die Ameise"

THE GRASHOPPER AND THE ANT

(Hintergrund zum Film DER HEUSCHRECK UND DIE AMEISE)

Lotte Reiniger und der Heuschreck

Diesmal steht eine Fabel im Mittelpunkt, und es geht moralisch zu. Vom alten Äsop der griechischen Anfänge über den großen Lafontaine unter Ludwig XIV. bis hin zum Janosch unserer Tage kam es zu immer neuen Bearbeitungen der Fabel "Grille und Ameise". Der gängige Handlungsverlauf lässt der Grille wenige Chancen. Zur Freude aller hat sie den Sommer über musiziert, wurde dann aber vom bitterkalten Winter überrascht und hatte nichts zu nagen und zu beißen. In ihrer Not entsann sie sich der fleißigen Ameise und ihrer Vorräte. Sie klopfte an, bat bescheiden um ein bisschen Nahrung und wurde gefragt. "Was hast du den Sommer über getan?" "Ich habe gesungen" erwiderte die Grille wahrheitsgetreu. "Nun gut, dann tanze jetzt!", gab die Ameise zur Antwort. Und wem die Moral noch immer nicht klar ist, dem sagt der Dichter Gleim abschließend: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." Gott sei Dank geht es aber hier nicht um den Dichter Gleim, sondern um die Lotte Reiniger. Wer die wahre Lotte Reiniger immer noch nicht kennt, der kann sich immer wieder durch den Kopf gehen lassen, was sie uns in ihren letzten Lebensmonaten im Tübinger Karolinenstift sagte: "Die Fabel endet mit einem Triumph der Ameise und das wollte ich nicht!"

Aus silhouettenfilmästhetischen Gründen hat sie die etwas unansehnliche und gedrungene Grille in einen Heuschreck verwandelt. Laut lachend ergänzt sie: "Ich hab' das alles umgedreht. Ich bin sehr für den Heuschreck." Und ein paar Tage später, nachdem sie ihren eigenen Film wieder angesehen hatte, wurde alles offenbar. Sie rieb sich die Augen und sagte nachdenklich stockend: "Eigentlich bin ich der grasshopper."

Die verfilmte Fabel

Wer gern wissen möchte, wie aus einer einfachen Erzählung die herrlichste Filmphantasie entsteht, der muss sich immer wieder diesen Film ansehen. Undenkbar, dass er sich nicht anstecken lässt von der ausgelassenen sommerlichen Heiterkeit der Eröffnungsszene. Auf blumiger Wiese und vor offenen Himmeln fiedelt der Heuschreck, was das Zeug hält. Alle tanzen auf ihre Weise nach seinen lustigen Melodien: die Schmetterlinge, die Frösche, ein Eichhörnchen, eine Maus, die Raupen und die Käfer, ja sogar die Blumen wiegen sich im Tanz. Und in dieses heitere Treiben platzt die geschäftige Frau Ameise hinein, die Nahrung für den Winter zusammenträgt. Kein Wunder, dass der lebenslustige Heuschreck gar nicht anders kann, als sie zum Tanzen einzuladen. Und auch kein Wunder, dass die Ameise spitz zurückgibt: "Tanzen? Ich habe Wichtigeres zu tun. Bald kommt der Winter, und wer klug ist, der sorgt rechtzeitig vor!" Doch wer mag jetzt daran denken, am allerwenigsten der sorglose Heuschreck, der sich wieder seinen Bewunderern zuwendet und weiter zum Tanze aufspielt.

Aber eines Tages war der schöne Sommer tatsächlich vorbei. Der Nordwind beginnt zu blasen und Kälte und Hunger plagen den Heuschreck. Und dazu der Kontrast: Frau Ameise in ihrem gemütlichen Häuschen. Am Fenster der verzweifelte Heuschreck. Er fasst sich ein Herz, klopft an, aber der Dialog an der Haustür wird zum bitteren Ende all seiner Hoffnungen. Es beginnt zu schneien, er erstarrt, seine Fiedel entgleitet ihm, er bricht zusammen, sinkt in den Schnee. Nur ein Zufall rettet ihn. Die Maus ist auf Brennholzsuche und entdeckt den reglosen Heuschreck. Unter den Klängen des Trauermarsches von Chopin schleppen Maus und Eichhörnchen den stocksteifen Musikanten in die Baumhöhle des Eichhörnchens. Mit Mühe gelingt es, ihn ins Leben zurückzuholen. Er schlägt die Augen auf, sieht seine Fiedel und fängt wieder an zu spielen.

Und dann kommt alles, wie es bei Lotte Reiniger kommen muss: Die Frau Ameise ist an der Tür und sucht Gesellschaft und Unterhaftung. Was die Maus und das Eichhörnchen ihr verwehren, das gesteht ihr der Heuschreck großmütig zu: "Komm her Ameise! Schließlich hast du ja Recht. Wenn du den ganzen Sommer über fleißig warst, dann magst du im Winter tanzen!"

Eigenes Fabulieren

Warum soll man eigentlich dabei stehen bleiben, sich in die immer neuen Bearbeitungen dieser und anderer Fabeln zu vertiefen? Lotte Reiniger selbst würde den Leser an dieser Stelle ernstlich bitten, es doch selber zu probieren und einfach drauflos zu fabulieren. Man kann mühelos den Verlauf der Handlung ändern. Man kann den Charakter der Tiere verändern und aus der Perspektive des Heuschrecks oder der Ameise erzählen. Man kann alles mit den Augen der hilfreichen Maus oder des munteren Eichhörnchens sehen. Wer anfängt, das alles zusammen mit Kindern aufzuschreiben, kann Fabelhaftes erreichen.

Es wird dabei nicht weniger vergnüglich zugehen als bei Georg Born. Er erzählt die Fabel unverändert bis zu der Stelle, wo die Ameise der Grille entgegen schleudert, dass sie halt jetzt tanzen möge, wenn sie im Sommer gesungen habe. Und so geht es dann weiter: "Die Grille begann zu tanzen. Da sie es gut machte, wurde sie beim Ballett engagiert. Sie tanzte nur einen Winter und konnte sich dann ein Haus im Süden kaufen, wo sie das ganze Jahr singen konnte. Moral: Ein guter Rat ist oft mehr wert als eine Scheibe Brot."

Lotte Reiniger hätte sich über so etwas köstlich amüsiert.

Eigenes Silhouettenfilmen

Drauflos fabulieren kann man auch auf dem Tricktisch. Hobbyfilmende Erwachsene müssen dann einen Tricktisch bauen und eine Kamera mit Einzelbildschaltung besorgen. Man braucht ja nicht unbedingt den Anregungen Lotte Reinigers folgen und dazu den eigenen Küchentisch opfern, unter Umständen tut es ein Tageslichtschreiber. Wer sich auf dieses Abenteuer des Filmens mit Kindern einlassen will, findet zahlreiche Hilfen in Büchern und Filmen (bei den Landes- und Kreisbildstellen):

- Lotte Reiniger: Schattentheater, Schattenpuppen, Schattenfilm, Texte Verlag, Tübingen
- 32 2228 "Ein Scherenschnittfilm entsteht: Lotte Reiniger bei der Arbeit
- 32 3296 "Möglichkeiten des Trickfilms"
- 32 3379 "Wie eine Zeichentrickfilm gemacht wird"
- 32 3071 "Zeichentrickfilm mit dem Arbeitsprojektor"

Ewald Heller

 

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