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Ausgabe 128-4/2011

GEKIDNAPPT

KIDNAPPET

(Hintergrund zum Film GEKIDNAPPT)

Regie: Vibeke Muasya, Dänemark 2010, 92 Min., Altersempfehlung ab 12 J.

Dokumentation der Schulvorstellung am 1. Juli 2011 im Rahmen des 29. Kinderfilmfests München

Inhalt
Der zwölfjährige fußballbegeisterte Simon, der bei seinen Adoptiveltern Susanne und Viktor in Dänemark aufgewachsen ist, soll in den Sommerferien sein Herkunftsland Kenia kennenlernen. Dort angekommen, fliegt sein signierter Fußball beim Kicken über die Mauer der abgeschirmten und luxuriösen Hotelanlange. Simon klettert trotz Susannes Verbot, die Anlage allein zu verlassen, hinterher. Die Jungen, die seinen Ball gefunden haben und so schnell nicht mehr hergeben wollen, nehmen Simon mit in ihr Dorf. Unvermittelt findet er sich in einer völlig anderen Welt wieder: in den Slums von Nairobi. Man beschnuppert sich vorsichtig, spielt zusammen Fußball. Die Kinder zeigen Simon, wie sie Metall sammeln, um sich ihr Essen zu verdienen – allein Simons Cola im Hotel hat das Dreifache ihres Tageseinkommens gekostet. Bald hat sich Simon im Labyrinth der Gassen verirrt und Dealer nehmen ihm seine Nike-Sneakers, Fußballtrikot und Sonnenbrille ab. Kanini, die Schwester eines der Jungen, warnt ihn, dass es hier nachts gefährlich werden kann, und bietet ihm Schutz in der Hütte. Währenddessen mobilisiert Simons Mutter alle Kräfte, um ihn wiederzufinden. Als bei ihrem Fernsehappell von Entführung und einer hohen Belohnung die Rede ist, spitzt sich die Lage zu: Drogenbosse und andere Kriminelle mischen sich ein und stellen ihre eigenen Spielregeln auf – für Simon und seine neuen Freunde wird es lebensbedrohlich.

Reaktionen während der Vorstellung
Die Vorstellung wird von Beginn an von großer Unruhe begleitet, zunächst aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit für das Geschehen auf der Leinwand, später wird bei vielen (vor allem konflikt- und spannungsreichen) Szenen angeregt und im Flüsterton diskutiert. Erstmals spürbar steigt das Interesse an der Filmhandlung mit Simons Ankunft in Kenia, dann noch einmal mit dem Ortswechsel in den Slums von Nairobi.
Mitunter fällt die Identifizierung der Figuren schwer – einmal wird Susanne, die in der Hotelanlage nach Simon sucht, nicht gleich erkannt, generell verwirrt die Vielzahl der Kinder im Slumdorf. Auf den Handy-bewehrten Massai-Krieger bleibt überraschenderweise eine Reaktion aus, möglicherweise ist "Massai" den jungen Zuschauern kein Begriff. Auch die (nicht geladene) Pistole am Kopf des Jungen bleibt unkommentiert, aber ein Schüler aus der 5. Klasse kaut hierbei nervös an seinen Nägeln und seine Körpersprache (unruhiges Herumrutschen auf dem Sitz, Schaukeln, Fäuste vorm Gesicht) während des Films verrät, wie auch bei weiteren Kindern zu beobachten, die innere Anspannung. Insgesamt steigt die Spannung im Publikum umso stärker, je prekärer Simons Lage wird. Mit seiner Gefangennahme erreicht die Aufmerksamkeit einen Höhepunkt. In der Szene, in der Amos Simon knebeln muss, werden die Schüler wieder unruhig, es wird viel geflüstert. Bei diversen Gelegenheiten wird der Stress mit witzigen Kommentaren und Lachen kompensiert, etwa wenn Kanini auf dem gemächlichen Mopedtaxi zur Polizeistation in Nairobi unterwegs ist ("voll schnell!") oder als Amos sich im Dunkeln vor der Polizei versteckt ("Ein Schwarzer kann sich gut tarnen"). Wie sehr die Schüler mitfiebern, zeigen Kommentare wie die folgenden: "Ich würde den fallen lassen, den Spast" (Amos' und Simons Balanceakt oberhalb der Nachtclub-Tanzfläche), "Heul doch!" und fachkundig: "Der wär schon längst tot bei 'nem Bauchschuss!“ (Amos wird angeschossen). Zwei Fünftklässler klinken sich bei dieser Schuss-Szene aus und schließen die Augen: "Ich geh mal schlafen" – "Ich auch". "Voll krass" heißt es schließlich, als Amos im künstlichen Koma liegt.

Reaktionen nach der Vorstellung
Da keine Gäste seitens der Filmproduktion anwesend sind, gibt die Kinderfilmfestleiterin Katrin Hoffmann Auskunft zu den Hintergründen des dokumentarisch anmutenden Films. So erfährt das Publikum, dass der Darsteller von Simon tatsächlich Simon heißt und als Adoptivkind in Dänemark lebt, seine Geschichte allerdings nicht identisch ist mit der Filmhandlung. Dass es sich um einen Spielfilm mit fiktiver Story handelt, der an Originalschauplätzen im nairobischen Slum gedreht wurde, sorgt für einige Verwirrung. So folgen Fragen, ob das denn nicht in Deutschland gewesen sei und ob das etwa ein echtes Dorf war. Ebenso interessiert, ob "die sich echt geküsst haben oder Sex hatten im Nachtclub", ob der "echt tot" sei (Snakes Partner) und ob der ausgeraubte Simon am Schluss seine Sachen zurückbekommen habe.
Neben filmbezogenen Fragen ("Wie lang wurde gedreht?" – "5 Wochen") gilt es auch zu klären, was eigentlich Slums sind. Ausgesprochen stark beschäftigt einige Schüler offenbar das im Film gezeigte Klebstoffschnüffeln, das zu Fragen wie "Wird man da echt high?" oder "Gibt es da einen speziellen Kleber?" führte.
Im Anschluss wurden noch einige Schüler und Schülerinnen der 7. Klasse (13-16 Jahre) befragt: Diese hatten einen "voll langweiligen" Film erwartet und waren überrascht, dass das "voll spannend wie [sic!] ein echter Spielfilm" war. Die Mädchen bemängelten, dass zu viele Waffen gezeigt wurden. Sie hatten Schwierigkeiten, die schwarzen Kinder auseinanderzuhalten, "vor allem, weil der Film so dunkel war". Besonders im Gedächtnis geblieben sind
* die Unterschiede zwischen hier und Afrika
* der Kontrast arm – reich
* Kaninis rosa Kleid
* Mr. K, der gleichzeitig Drogenboss und Vater ist
* die ambivalente Figur Amos

Verwendbarkeit des Films für die Kinderkulturarbeit
"Gekidnappt" zeigt seinem Publikum aus Simons naiv-unbedarfter, zunächst auch überheblicher Sichtweise die Lebensbedingungen insbesondere der Kinder im Slum von Nairobi. Anhand seiner action- und spannungsreichen Handlung skizziert der Film die gesellschaftlichen Zu- und Umstände, die Armut und Kriminalität, Drogensucht und Korruption verursachen. Gleichermaßen werden auch positive Aspekte thematisiert, etwa die Solidarität und der Zusammenhalt der Kinder oder das Engagement ambitionierter Projekte wie der Jugendartistengruppe "Kibera Hamlets", die sich als Alternative zu Drogen und Kriminalität verstehen. Darüber hinaus bietet der Film Diskussionsstoff zu Themen wie (legaler und illegaler) Adoption, der manipulativen Rolle der Medien (die Entführung wird erst durch die im Fernsehen verkündete Belohnung initiiert) oder generell zu Werten wie Loyalität, Freundschaft und Mut. "Gekidnappt" zeigt starke Kinder, allen voran Kanini, die entschlossen und couragiert handelt, und Amos, der Simon zunächst verrät, dann aber zu ihm hält, obwohl er damit auch sein eigenes Leben riskiert.
Der von der dänischen Produktion ausdrücklich als "Actionfilm für Kinder" angepriesene Film enthält alle Elemente des Genres: Eine düstere Bildgebung, schnelle Schnitte, ein atemloses Finale, lebensgefährliche und ausweglose Situationen, Waffengewalt und Tote – selbst ein Mord geschieht "on scene". Sein semidokumentarischer Charakter und die kindlich-jugendlichen Protagonisten unterscheiden den Film von den Actionfilmen aus dem Fernsehabendprogramm, so dass man sich nicht uneingeschränkt auf die Sehgewohnheiten von Zehn- bzw. Zwölfjährigen berufen kann. Eine begleitende Vor- und Nachbereitung des Filmerlebnisses ist wünschenswert, da der Film viele Fragen aufwirft. Es hat sich aber auch gezeigt, dass "Gekidnappt" von seinem jungen Publikum aufgrund seiner Machart sehr gut angenommen wird und damit eine hervorragende Chance ist, sich mit den genannten Themen auseinanderzusetzen, die sonst schwer zu vermitteln sind. Für die Kinderkulturarbeit ist der Film somit sehr empfehlenswert.

Ulrike Seyffarth

 

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