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Ausgabe 64-4/1995

"Paul IV"

(Hintergrund zum Film PAUL IV.)

Filmdokumentation

Paul IV. ist ein 13-jähriger Junge, der mit seinen Eltern in einem gut situierten Vorort von Berlin ein wenig aufregendes Leben lebt: Alles muss sich Vaters expandierendem Metzgergeschäft unterordnen; Paul IV. heißt so, weil er der vierte in der Erbfolge ist. In diese scheinbare Idylle bricht eines Nachts Familie Schröder ein. Mutter Schröder bezieht mit ihren vier Kindern das Nachbarhaus, und endlich gibt es in der Ulmenstrasse Anlass für Klatsch und Tratsch: Niemand hat mit Schröders je ein Wort gewechselt, aber alle Aggressionen konzentrieren sich auf diese Familie, die Kinder sind den Schikanen der Nachbarn ausgesetzt. Paul entwickelt als einziger Sympathie, besonders für Delphine, die älteste Tochter, und er verteidigt ihre zwei Brüder gegen zwei Schlägerjungen aus der Nachbarschaft. Daraufhin flüchtet der kleine Dandelion Schröder aus Angst und kann nur dank der hellseherischen Kräfte seiner kleinen Schwester wieder gefunden werden.

So unbemerkt, wie sie gekommen sind, ziehen die Schröders schließlich wieder aus – aber sie haben die Welt von Paul und seiner Mutter verändert: Paul hat gesehen, dass es ein freieres, selbstbestimmteres Leben gibt, doch seine Delphine ist nicht mehr da. Und weil dieser Schluss zu traurig und hoffnungslos gewesen wäre, bekam der Film nach seiner Fertigstellung noch eine Rahmenhandlung angehängt: Paul darf Delphine wiedersehen und erzählt die Geschichte aus der Rückschau.

Erfahrungen

Beim Münchner Kinderfilmfest (24.6.-1.7.95) lief "Paul IV." in zwei Vorführungen. Einmal als öffentliche Filmfestveranstaltung mit interessierten Filmfestbesuchern, wobei eine gelassene, ruhige Stimmung herrschte, und ein zweites Mal als Schulvorstellung für mehrere 2. Klassen, die meisten Kinder also acht Jahre alt, wovon ein Teil inhaltlich auf den Film vorbereitet war, und eine Klasse nur dessen Titel wusste.

Die Reaktionen der Zuschauer waren in den beiden Kinovorstellungen recht unterschiedlich. Während die Zuschauer die reguläre Vorführung beim Kinderfilmfest konzentriert verfolgten – die meisten Kinder waren in Begleitung Erwachsener da – herrschte beim Schülerpublikum eher Unruhe und Unaufmerksamkeit. Sie ließen sich vor allem auf die aktionsbetonten Szenen ein (von "action" kann man bei diesem Film nicht sprechen) und unterhielten sich angeregt z. B. über die schlafwandelnde hellseherische Schrödertochter oder die Prügel, die ihre beiden Brüder von den großen Nachbarsjungen beziehen. Dass nach dieser Schlägerei der kleine Dandelion verschwindet, war einigen Kindern nicht ganz klar – "Nein, nicht die Schlange wird gesucht, sondern der Dandi." Die eher Dialog überladenen Spielszenen und die aus dem Off kommentierten, die Handlung vorantreibenden Erzählsequenzen können den Spannungsbogen nicht halten. Nur manchmal riss die Musik die Kinder mit und sie fingen an, auf ihren Stühlen mitzuwippen wie beim Geburtstags- und Wiedersehensfest für Dandelion. Sonst schweifte die Konzentration immer wieder ab, die geflüsterten Unterhaltungen im Kinosaal drehten sich um andere Dinge als den Film.

Nach der Schulvorstellung waren die Kinder total aufgedreht und sehr schwer zum Gespräch mit der anwesenden Regisseurin zu motivieren. Es ging dann vor allem um Verständnisfragen – "Warum haben die großen Jungen die kleinen geschlagen?" – oder es wurde diskutiert, ob es Hellseher wirklich gibt usw. Das eigentliche Thema, die Ausgrenzung eines unangepassten Lebensstils, kam nicht zur Sprache, bei der Diskussion nach der regulären Vorstellung erst nach einem Hinweis der Gesprächsleitung.

Bewertung

Es ist erfreulich, so werden Publikum und Jury beim "Goldenen Spatz" in Gera gedacht haben, dass es einen deutschen Kinderfilm gibt, der sich dem gerade bei uns so brisanten Problem der Intoleranz widmet, und deswegen "Paul IV." den Sonderpreis zuerkannt haben. Das gut gemeinte Anliegen des Films darf aber nicht über dessen Schwächen hinwegtäuschen und Kriterien für eine Beurteilung verwischen. Gerade wenn er nun auf Festivals läuft und bald in der ARD gezeigt wird, muss er im internationalen Maßstab konkurrieren und hier fällt er stark hinter seinen Anspruch zurück.

Die Hauptrolle spielt der Sohn der Regisseurin – leider keine starke Besetzung (ein junger Zuschauer mitten im Film: "Der hat ja noch nie gelacht"). So fällt die Identifikationsfigur sehr blass aus, in der der zentrale Konflikt des Films stattfindet, der zwischen seinen eigenen und den Werten seiner Eltern. Eigentlich müsste also gerade die Figur des Paul die ganze Bandbreite des Ausdrucks darstellen können. Auch und gerade weil dieser Konflikt in den anderen Figuren sehr plakativ angelegt ist: Außer den Schröders gibt es nicht eine einzige sympathische Figur, die Erwachsenen sind durchweg hinterhältig und bösartig – selbst der Lehrer, der nur einmal kurz auftaucht, versucht den Schröderjungen gleich am ersten Schultag fertigzumachen; ganz zu schweigen von den unsympathischen Intrigantinnen. Nur Pauls Mutter ist "im Grunde ganz in Ordnung" und stellt sich am Ende gegen ihre Nachbarinnen. Deren brüchige heile Welt, aus der heraus sie die Schröders ablehnen, wird nur verbalisiert, aber nicht in Handlung umgesetzt und damit auch nicht emotional für junge Zuschauer nachvollziehbar. So bleibt die Geschichte sehr plakativ an der Oberfläche.

"Paul IV." ist nur begrenzt im Kinderkino oder für Schulvorstellungen einsetzbar, wenn es um den Schwerpunkt Toleranz und Ausgrenzung Andersdenkender geht, da er eine Erweiterung dieses Themenspektrums bietet, die Isolierung einer normalen deutschen Familie, nicht einer Minderheit. Insofern kann er als Diskussionsgrundlage dienen – "Jeden kann es treffen" – und jeder ist aufgefordert, sich dem entgegen zu stellen.

Der Film sollte aber im Rahmen einer Aufarbeitung gezeigt werden, da das Ende zwiespältig ist: Oberflächlich ein Happy End – Paul trifft Delphine wieder – tatsächlich aber konnte Pauls Engagement nicht verhindern, dass die Schröders aus ihrem Haus vertrieben wurden, die Schikanen gegen sie also Erfolg hatten. Die Achtjährigen sind von dem Film nicht überfordert, für ältere Kinder bietet "Paul IV." aber zu wenig Reibungsfläche und zu wenig Komplexität.

Katrin Hoffmann

 

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