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Ausgabe 108-4/2006

LOVITOR

Produktion: Mikhail Kalatozov Fund; Russland 2005 – Regie: Farkhot Abdullaev – Drehbuch: Farkhot Abdullaev, Evgenij Mitko – Kamera: Archil Akhvlediani – Schnitt: Farkhot Abdullaev – Musik: Marina Makarova, David Yevgenidze – Darsteller: Oleg Koulaev (Kolyan), Anastasia Yakovleva (Oksana), Evgenija Dobrovolskaya (Mara), Alexander Naumov (Alik) u. a. – Länge: 115 Minuten – Farbe – Vertriebsinformation: e-mail: svetlana@kalatozov.ru – Alterseignung: ab 14 J.

Es gibt Russen, die kaufen heute englische Fußballvereine und andere, die Schutz vor der Kälte der Nacht in der Kanalisation suchen müssen, weil es für sie keinen anderen Platz gibt. Vor 16 Jahren wurden im einst hermetisch abgeriegelten sowjetischen Imperium die Fenster aufgerissen. Herein kam der Wind der Freiheit, der zunächst alle aufatmen ließ. Doch der Wind, weil verbunden mit den nüchternen Gesetzen des kapitalistischen Marktes, erwies sich schnell als ziemlich kalt. Wärmen konnten sich jetzt nur noch die, die sich auch wirtschaftlich durchsetzten. Das führte zu Verteilungskämpfen, die oft mit Gewalt einhergingen, wobei die Grenzen der Kriminalität bisweilen weit überschritten wurden. Inzwischen sind die Pfründe verteilt, Illusionen haben sich verflüchtigt und Gewinner und Verlierer beginnen sich in der neuen Normalität einzurichten.

In Westeuropa leider viel zu wenig beachtet, hat der russische Film die Entwicklung trotz aller eigenen wirtschaftlichen Probleme kontinuierlich begleitet. Hierbei dominierten in den 90er-Jahren, angesiedelt in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus, die Gangster-, Kriminal- und Kriegsfilme. Inzwischen richtet sich die Aufmerksamkeit, der Entwicklung entsprechend, wieder stärker auf das Individuum. Wie gelingt es dem Einzelnen, in den neuen Verhältnissen zu überleben? Wo findet er Geborgenheit, Wärme und Gemeinschaft unabhängig der großen gesellschaftlichen Strukturen? In diesem Zusammenhang scheint eine Rückbesinnung auf die Familie, ob nun auf die natürlich gegebene oder eine, die sich aus gemeinsamen sozialen Erfahrungen ableitet, mehr als konsequent.

Dieses Thema bestimmt auch "Lovitor" von Farkhot Abdullaev. Koyan überlebt in seinem Schlafquartier im unterirdischen Kanalsystem nur knapp eine Gaskatastrophe. Gerettet wird er von einer Gruppe von Straßenkindern, die durch Betteln und kleine Gelegenheitsjobs ihren Lebensunterhalt verdient. Durch sie gerät Koyan in eine Art Familie, die außerhalb der Stadt in einem Flugzeugwrack lebt und für die der durch einen Unfall schwer behinderte Ex-Flieger Alik und dessen Freundin Mascha Vater und Mutter darstellen. Die Kinder träumen davon, eines Tages ein gemeinsames Haus kaufen zu können, das für sie ein würdiger Lebensmittelpunkt werden könnte. Dafür arbeiten und betteln sie und das dabei verdiente Geld übergeben sie Alik, der es in einem Blechkasten sammelt.

Koyan wird schnell zu einer Führungsfigur in der Gruppe, in der wenig später auch die junge Prostituierte Oksana, in die sich der Junge verliebt hat, Aufnahme findet. Doch Alik versagt in seiner Rolle als Ersatzvater kläglich. Mit dem Geld der Kinder hat er heimlich seine Drogensucht befriedigt. Als dies aufgedeckt wird, droht der große Traum der Gruppe zu zerbrechen. Enttäuschung, Hilflosigkeit und Misstrauen breiten sich aus und es folgt Katastrophe auf Katastrophe. Zum Schluss zieht Mascha mit dem Grüppchen in eine ungewisse Zukunft und Koyan bleibt mit einer unbestimmten Sehnsucht allein zurück.

"Lovitor" konfrontiert den Zuschauer mit einem weiten Spektrum problematischer sozialer Verwerfungen der gegenwärtigen russischen Gesellschaft. Neben den schon genannten Aspekten kommen noch Kleinkriminalität, Korruption und weit verbreiteter Egoismus hinzu. All dem sucht er den Traum von der familiären Gemeinschaft entgegen zu setzen. Leider wird das Thema aber mit der Fülle der angesprochenen Probleme überfordert. Zu viele Schicksale werden angerissen, zu viele Nebenaspekte aufgegriffen. Dadurch gerät die Figur des Koyan auch immer wieder aus dem Zentrum der Handlung und sie kann so nicht die in ihr angelegte Identifikationsfunktion erfüllen. Was für den Zuschauer bleibt, ist die Erschütterung über die beschriebenen Zustände, die aber leider keine emotionale Nachhaltigkeit provoziert.

Klaus-Dieter Felsmann

 

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