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Ausgabe 122-2/2010

DIE LETZTE IHRER FAMILIE

SUKUNSA VIIMEINEN

Produktion: Illume Ltd.; Finnland 2009 – Regie und Buch: Anastasia Lapsui, Markku Lehmuskallio – Kamera: Johannes Lehmuskallio – Schnitt: Juho Gartz – Darsteller: Aleksandra Okotetto (Neko als Mädchen), Radik Anaguritsi (Nekos Freund), Nadezhda Pyrerko (Neko als Erwachsene), Anastasia Lapsui (Großmutter), Nadezhda Zitnik (Internatslehrerin) u. a. – Länge: 80 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Illume Ltd., Helsinki, e-mail: illume@illume.fi – Altersempfehlung: ab 12 J.

Glitzernder Schnee bis zum Horizont. Inmitten dieser Schneewüste ein Mädchen, eingewickelt in einen dicken Pelzmantel, darum ein kunstvoll gewebter Gürtel geschlungen, Pelzstiefel und ein geblümtes Tuch um den Kopf. Es hat uns den Rücken zugekehrt, breitet die Arme aus, als wollte es vor Glück die ganze Welt umarmen. Schnitt. Eine Ebene, kaum Vegetation, ein kleines Lagerfeuer. Das Mädchen besucht mit einem alten Mann eine Heiligenstätte. Sie füttern die Holzstatuen mit Brei, setzen sich dann dazu und lassen es sich auch schmecken. Schnitt. Zwei Tipis, einsam in der kargen Landschaft. Wir befinden uns auf der Halbinsel Jamal im Nordwesten Sibiriens. Dort, in der unwirtlichen Tundra, lebt das Naturvolk der Nenzen. Sie sind Nomaden, ernähren sich vom Fischfang, von der Jagd und der Rentierzucht. Schnitt. Eine Frau mittleren Alters sitzt in der Küche ihres bescheidenen Holzhauses. Durch das Fenster fällt der Blick auf die Dorfstraße. Lange schweigt sie. Dann stellt sie sich vor: "Ich bin Ambasi Veras Tochter. Mein russischer Name ist Nadezhda Ambasievna. Mein wirklicher Name ist Neko. Ich bin die Letzte von Veras Familie." Und sie erzählt ihre Geschichte, wie sie als Kind in der damaligen Sowjetunion aus ihrer Familie gerissen, "russifiziert" und ihrer nenzischen Wurzeln beraubt wurde.

"Die Letzte ihrer Familie" heißt der mit dokumentarischen Mitteln arbeitende Spielfilm von Anastasia Lapsui und Markku Lehmuskallio, der im Februar 2010 bei Generation/Kplus seine Weltpremiere feierte. Anastasia Lapsui, selbst dem Volk der Nenzen zugehörig, und der Altmeister des finnischen Films, Markku Lehmuskallio, haben sich in ihren Arbeiten immer wieder den Ureinwohnern und deren traditionellem Leben in den arktischen Gebieten zugewandt. In ihrer neuen Produktion spielen ausschließlich Laiendarsteller aus der Region, Neko und ihre Familie werden von Nenzen verkörpert. Die Rolle der erwachsenen Neko spielt die Lehrerin Nadezhda Pyrerko. Ihr Schicksal sowie das der Regisseurin Anastasia Lapsui ist zugleich die Geschichte des Films.

Neko lebt mit ihrem Vater und der Großmutter in der sibirischen Tundra zwischen den Flüssen Tas und Pur. Neko ist ein Einzelkind. Die Mutter ist schon seit Jahren weg. Wegen einer schweren Lungenentzündung lag sie lange Zeit im Krankenhaus, nun arbeitet sie als Verkäuferin in einem Dorf weitab. Neko kann sich kein anderes Leben als das einer Nomadin vorstellen. Von der Großmutter, überzeugend dargestellt von Anastasia Lapsui, wird sie liebevoll umsorgt. Manchmal schlägt die alte Frau die Trommel und singt ihrer Enkelin Schamanenlieder vor. Um die Ernährung kümmert sich der Vater. Dass Neko eine Analphabetin ist, hat sie noch nie gestört. Schließlich muss sie andere Dinge lernen, um durchs Leben zu kommen. Doch eines Tages steht die Mutter in Begleitung einer russischen Lehrerin und des Direktors eines Internats vor ihrem Tipi. Neko soll zur Schule gehen, russisch lernen und ein guter Pionier werden. Das ist Pflicht in der Sowjetunion, auch in dieser Region. Vater und Großmutter können nichts dagegen machen, Neko muss mit in das Internat, das viele Kilometer von ihrem Zuhause entfernt ist. Dort ist alles anders. Neko bekommt den Namen Nadezhda und muss von nun an russisch sprechen. Sie darf nicht mehr mit den Fingern zählen, nicht mit Fischen und Rentieren rechnen, sondern mit Zahlen, es ist ihr verboten, auf dem Fußboden zu sitzen, sie bekommt Brei anstatt Fisch zu essen, muss sich jeden Tag waschen und darf nicht mit ihrer Kleidung ins Bett. Zum ersten Mal in ihrem Leben zieht Neko ein Nachthemd an. Über der Tafel prangt Lenins Spruch: „Lernen, lernen, nochmals lernen!“ Das soll sich Neko nun zu Herzen nehmen, obwohl sie kaum ein Wort der fremden Sprache versteht. Die anderen Kinder lachen über sie, die Außenseiterin aus der weiten Tundra. Nur in Parasi, einem nenzischen Jungen, findet sie einen Freund.
Als endlich die Ferien beginnen und Neko es kaum erwarten kann, Vater und Großmutter wiederzusehen, wird das Mädchen gezwungen, im Internat zu bleiben und Nachhilfeunterricht zu nehmen. Neko rebelliert und macht sich heimlich mit Parasi auf den Weg nach Hause.

Dieser berührende Film, der uns mit einer bemerkenswerten Ruhe und Langsamkeit sowie bestechenden Landschaftsaufnahmen in eine fremde Welt führt, ist nach wie vor von großer Aktualität. Heute leben im Autonomen Bezirk der Nenzen und im Autonomen Bezirk der Jamal-Nenzen noch 41.300 Nenzen. Sie haben von allen indigenen Völkern Westsibiriens ihre traditionelle Lebensweise, ihre Sprache und ihre Kultur am erfolgreichsten bewahren können, obwohl die meisten von ihnen sesshaft geworden sind. Die wenigen Nomaden werden nun auch nicht mehr per Dekret in die russische Gesellschaft eingegliedert und dabei ihrer ursprünglichen Lebensformen beraubt, stattdessen aber durch die Gesetze, die von der Gas- und Erdölindustrie vorgegeben werden. Damit reiht sich dieser Film in ganz spezifischer Weise in die Reihe der besonderen cineastischen Entdeckungen ein, die die Kinder- und Jugendfilmsektion „Generation“ auf der diesjährigen Berlinale neuerlich bereithielt.

Barbara Felsmann

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 123-2/2010 - Interview - "Die Welt ist ja kein Museum, sie verändert sich andauernd"

 

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