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Ausgabe 78-2/1999

"Wir haben so etwas wie eine neue Sachlichkeit für Kinder eingeführt"

Gespräch mit Gert K. Müntefering, Leiter des Bereichs Familienprogramm / WDR-Fernsehen

Interview

KJK: Am 30. Juni diesen Jahres werden Sie nach 38 Jahren Ihre Tätigkeit beim WDR beenden. Wird man dann sagen, damit geht eine Ära im Hinblick auf die Fernsehproduktion für Kinder zu Ende?
Gert K. Müntefering: "Also zum Teil wünscht man sich das ja. Aber es wird zum Glück nicht so sein. Es gehörte immer zu meinen Aufgaben, den Sender auch für die Zukunft funktionstüchtig zu machen. Das heißt, dass man ein Redaktionskollegium so entwickelt und emanzipiert, dass es – natürlich mit neuen Ideen, aber immer auf der Grundlage des Geistes, den wir im Kinderprogramm beim Westdeutschen Rundfunk geprägt haben – weiter arbeitet."

Wenn Sie vom Geist des Programms sprechen, dann meinen Sie grundsätzliche Strukturen, die weiter wirken werden.
"Ja, ich hoffe, dass wir in den 60er-Jahren etwas Grundsätzliches in das Kinderprogramm implantiert haben. Wir haben so etwas wie eine neue Sachlichkeit für Kinder eingeführt, indem wir für sie die Grundsätze des modernen Journalismus weiterentwickelt haben. Die 'Sendung mit der Maus' ist für mich, wenn man so sagen will, die Tagesschau für Kinder. Das gibt man nicht auf. Gleichzeitig ist eine hohe Spielfreude in der Redaktion vorhanden, die in doppelter Hinsicht wirkt. Es macht selbst Spaß, Programm zu machen und das Programm als solches macht Spaß. Das bedeutet allerdings nicht, dass man sich dauernd nur totlacht, es ist im Sinne einer dramatischen Herausforderung zu verstehen. Ich denke auch, dass wir einige sehr wichtige Programmmarken geschaffen haben, die sowohl im Programm selbst als auch im Programmumfeld, im Markt der Phantasien des Konsums, um einmal dieses Wort zu gebrauchen, von Bedeutung sind. Die 'Maus', 'Käpt'n Blaubär' oder 'Janosch', das sind alles Dinge, die mit uns verbunden werden und die zum Glück auch künftig weiter leben."

"Kinderfernsehen ist, wenn Kinder fernsehen", das ist ein Zitat von Ihnen, das sehr oft vorgetragen wird und oftmals für Irritationen sorgte.
"Ja, das habe ich Anfang der 70er-Jahre gesagt. Um das noch mal ganz deutlich zu sagen, ich wollte damit die eigene Selbstsicherheit erschüttern. Es reicht nicht, wenn wir sagen, wir machen gutes und ordentliches Kinderfernsehen. Es gibt eine weiter reichende Herausforderung durch die Kinder, die alles Mögliche sehen und sich ihr eigenes Fernsehen im Kopf zurechtmachen. Durch diese Brücke sind wir in Konkurrenz mit anderen Angeboten, auch wenn diese nicht für Kinder gedacht sind."

Die gesamte Fernsehlandschaft hat sich seither aber enorm verändert. Es gibt eine völlig andere Herausforderung durch konkurrierende Vollprogramme z. B. an den Nachmittagen.
"Der Satz bleibt dennoch richtig. Ich habe ja nicht gesagt, dass, wenn Kinder fernsehen, das Fernsehen dann richtig ist. Es gehört aber so oder so zunächst einmal zum Bestandteil der kindlichen Lebenswelt. Was bisweilen am Nachmittag oft unter der Gürtellinie vorgeführt wird, sehe ich schon als ein Gefährdungspotenzial. Dabei geht es noch nicht einmal vordergründig um die Inhalte, obwohl hier tatsächlich manches grässlich und schrecklich ist. Es geht darum, welcher Umgang unter den Leuten vorgeführt wird oder um die Brutalisierung und Vulgarisierung der Ausdrücke. Bei aller berechtigten Kritik, die es natürlich gibt, denke ich, dass die öffentlich-rechtlichen Programme sich hier um vernünftige Alternativen bemühen. Allerdings stimmt es leider auch, dass es über die Jahre nicht genug Kinder gab, die sozusagen bereit waren, an den Nachmittagen speziell für sie gemachtes Programm zu sehen. Wir sind ein Vollprogramm und wir müssen viele Zuschauergruppen bedienen. Insofern hat es im Kinderbereich die Konzentration auf das Wochenendprogramm gegeben. Allerdings gibt es für einen großen Teil der Zuschauer durch den 'Kinderkanal' eine gute Alternative."

Es gibt noch einen weiteren Satz von Ihnen, der in Debatten um den Kinderfilm und das Kinderfernsehen häufig sehr kontrovers diskutiert wird: "Kinderfilme haben einen Fehler, sie suchen immer so nach Bedeutung."
"Es fällt mir furchtbar schwer, eine Debatte über Qualitätskriterien zu führen. Das liegt nicht etwa daran, dass ich nicht in der Lage wäre, irgendwelche Kriterien zu benennen. Wir reden aber doch auch nicht ständig über den Sauerstoff, den wir ein- und ausatmen, sondern wir leben davon. Ich denke, wir müssen über Marktkriterien sprechen. Warum hat ein Film im Markt Erfolg, oder warum nicht. Wie ist das im Vergleich zu anderen Dingen, die zum Geschäft werden? Dabei müssen wir uns fragen, warum sind unsere Bedeutungsideen weniger wirkungsvoll. Welches Publikum wollen wir ansprechen? Wenn man wirklich eine interessante Geschichte erzählt, dann hat diese auch automatisch Qualitätskriterien. Dabei möchte ich nicht einfach sagen, wenn du dieses oder jenes ausschließt, hast du zwangsläufig Erfolg. Doch wir müssen an die Sache einfach lockerer herangehen. Die Dänen oder die Holländer, die können das. Wenn der deutsche Mensch am Morgen die Augen aufschlägt, dann ist er zunächst ein Pädagoge, und dann putzt er sich die Zähne. Hierzulande bekommen sie keine Fördergelder, wenn sie aufschreiben, dass in ihrer Geschichte am Anfang 17 Torten geworfen werden und am Ende ein Hund wegläuft. Trotzdem kann aber zwischen diesen beiden Elementen eine ganz bunte, herausfordernde Kinderwelt liegen."

Besonders in den 70er- und 80er-Jahren ist Ihr Name und damit der WDR entscheidend mit wesentlichen Kinderfilmproduktionen verbunden gewesen. Heute scheint hier ein gewisser Stillstand eingetreten zu sein.
"Ich glaube, wir hatten unsere Epoche und das war eine besonders glückliche Epoche. Besonders bemerkenswert war die Zusammenarbeit mit den Tschechen. Ich nenne da nur Pan Tau. Hier kamen eine wunderbare Naivität und ein hoher Kunstverstand zusammen. Es war auch insgesamt eine fruchtbare Zeit für die Entwicklung von Kinderstoffen. Doch wie an anderer Stelle im künstlerischen Schaffen auch, kann eine solche erfolgreiche Phase dann aber auch erstarren. Witz und Poesie verfangen sich in einem Schema und verlieren ihre Kraft. Das ist nicht eine Frage des Geldes, wie man das manchmal vermuten möchte. Die Epoche selbst wirkt aber weiter. Es sind Evergreens entstanden, die immer wieder im Programm auftauchen. Aber schauen Sie, ist 'Käpt'n Blaubär' nicht auch etwas Wunderbares? Der ist erst vier oder fünf Jahre alt. Oder 'Janosch', der jetzt beim SWR für die ARD produziert wird, das sind doch Qualitäten. Heute ist es selbstverständlich, auf welchem Niveau die 'Maus' Jahr für Jahr ihren Standard hält. Ich meine, es ist eine große Leistung, wenn solche Qualitäten über so lange Zeiträume lebendig gehalten werden können."

Ist es also so, dass es einmal glückliche Zeiten gab, wo im Fernsehen große Kinderfilmprojekte besonders gefördert wurden, weil sie auch im Sender gefragt waren. Heute kann die Kinderfilmproduktion auf die Mittel des Fernsehens weniger stark vertrauen?
"Naja, also da muss ich Sie insofern enttäuschen, als diese Vergangenheit finanziell gar nicht so toll ausgestattet war. Also, wenn da 50/80.000 Mark, maximal 100.000 Mark von uns in eine Spielfilmproduktion geflossen sind, dann war das viel Geld. Nein, die Filme wurden über Förderung bzw. über die Verleiher, das war damals noch ein bisschen offener, im wesentlichen Teil finanziert. Das ist im Prinzip heute nicht anders. Was allerdings in Deutschland viel stärker gemacht werden müsste, wäre eine bessere Kooperation zwischen den Ländern. Gemeinsam müssen gute Stoffe entwickelt werden. Dann darf es nicht zu kleinlicher Kleckerei kommen, sondern die Mittel müssen zusammengetan werden und die Projekte dann wechselseitig mal in Bayern, mal in Thüringen oder Norddeutschland realisiert werden. Der Produktionsmarkt darf nicht nur eine formale Förderungsbeweglichkeit haben."

Trotzdem wäre es doch vorstellbar, dass von einer Fernsehstation, vielleicht sogar vom Kinderkanal, ganz eigenständig ein Spielfilm für Kinder produziert wird.
"Also der Kinderkanal hat dafür momentan keinen Etat. Wir übrigens auch nicht. Was ich aber schon länger sage, ist, dass das Kinderfernsehen nicht nur eine Aufgabe der Kinderredaktionen ist. Die Abendprogrammredaktionen hätten das Geld für größere Projekte. Hier sollte etwas passieren, oder man sollte diese Mittel an die Kinderredaktionen weiterreichen. Für sechs Millionen Mark könnten wir schon drei ordentliche Projekte im Jahr realisieren. Mit einer klugen Koproduktion könnten es sogar noch ein, zwei Filme mehr sein. Ein gutes Beispiel in dieser Richtung waren einst die 'Vorstadtkrokodile'. Das war ein authentisches und modernes Kinderstück aus dem Ruhrgebiet und gleichzeitig richtiges dramatisches Abendfernsehen. Es hat auf beiden Plätzen gut funktioniert. Mit solchen Projekten würde auch symbolhaft deutlich werden, dass sich das Fernsehen seiner gesamten Zuschauerschaft verbunden fühlt. Dazu gehören selbstverständlich die Kinder, für die man sich bei aller Wichtigkeit nicht nur den Kinderkanal oder die Sendung mit der Maus halten darf."

Beim Kinder-Film&Fernseh-Festival in Gera hat man Ihnen einen 'Ehrenspatzen' überreicht. Welche Bedeutung hat diese Auszeichnung für Sie?
"Ich bin darüber insofern froh, weil ich denke, dass Gera immer noch ein sehr junges Festival ist, das nach vorn sieht, aber auch eine Verbindung zur Tradition braucht. Wenn der 'Spatz' jetzt sozusagen in mir diese Verbindung zur Vergangenheit sieht, so finde ich das gut und es stimmt mich optimistisch für die Zukunft. Ich bin nicht geehrt worden als jemand, der als Einzelperson irgendein herausragendes persönliches Verdienst bei der Herstellung von Kinderfernsehen hat, sondern als jemand, der für eine bestimmte Programmentwicklung steht. Hier war ich aber wahrlich nicht der Einzige, und so sehe ich die Auszeichnung auch stellvertretend für viele Kollegen."

Das Gespräch mit Gert K. Müntefering führte Klaus-Dieter Felsmann

 

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